Kritik und Verriss

Hier soll eine klare Sprache gesprochen und aktuelle Theorien auch zur Orientierung nach einer Diskussion der grundlegenden Merkmale bewertet werden. Je höher die Bewertung, desto ausführlicher die Diskussion. Die Null bekommen die Theoretiker des geistigen Stuhlgangs, 1 bis 3 diejenigen Theorien, die zwar teilweise richtige Ansätze vorweisen können, diese aber zumeist woanders geklaut haben.  4 bis 6 erhalten diejenigen, die schon etwas Eigenständiges besitzen, um die man aber noch herumkommt, wenn man zu den alten oder neuen Klassikern greift. Im Grunde ist schon bei einer 6 eine ernsthafte Auseinandersetzung erforderlich. Bei den Werken, bei denen die Bewertung von der 7 bis zur 9 geht, ist schon ein Infight nötig und man muß blaue Flecken etc. einkalkulieren. Eine 10 bedeutet Verneigungswürdigkeit und daß ich diese Theorie gerne anderen erklären können möchte.

Diese Bewertung muss in drei Bereichen vorgenommen werden, wenn sich die Textsorten in einem Buch mischen, also z.B. Philosophisches mit Theoretischem und geisteswissenschaftlichen Betrachtungen. Die drei Bereiche, in denen Bewertungen vorgenommen werden, sind: Höhe (Abstraktionsniveau), Tiefe (seelische Denktiefe, das Sich-Reiben am emotionalen Widerstand) und Breite (der Umgang mit dem verfügbaren Material).

Reinhard Brandt: D´Artagnan und die Urteilstafel (München 1998)

Bevor dieses Buch 1998 im dtv-Verlag erschienen ist, wurde es schon 1991 vom Franz Steiner Verlag herausgebracht. Reinhard Brandt (emeritierter Marburger Philosophieprofessor, Jahrgang 1937, von dem ich nur dieses eine Buch gelesen habe) will in der alteuropäischen Ordnung der Wirklichkeit ein Muster ausmachen, das in sich Unterordnung (Hypotaxe) und Nebenordnung (Parataxe) miteinander verbindet. Immer werden drei Phänomene nebeneinander gestellt, denen ein viertes übergeordnet wird, das dann die drei zusammenfasst bzw. ihre Einheit abschließt(1,2,3/4). Die Freiheit bei der Entdeckung oder Behauptung dieses Musters gibt ihm sicherlich die wage und nie eindeutig geklärte Form der Hypotaxe. Im Titel wird auf die drei Musketiere und D’Artagnan sowie auf die Urteilstafel von Kant Bezug genommen. D’Artagnan ist der vierte, der die Formel diktiert: “Alle für einen und einer für alle”. Er soll im Roman von Dumas für die heile Vergangenheit und für die vielversprechende Zukunft der französischen Nation stehen, Athos für den militärischen Adel; Porthos ist der Bürger und Aramis der Klerikale und so werden dann Stände, Lebenswege etc. unter das Schema subsumiert.  Das übergeordnete Vierte soll immer die Vollständigkeit der nebengeordneten Drei anzeigen. Das Buch folgt in seiner Einteilung den Fragen Kants: “Was soll ich tun?”, “was kann ich wissen?” und “was darf ich hoffen?”.  Diesen drei Fragen wurde von Kant eine vierte hinzugefügt, die nach Brandt eine Grundlegung der drei anderen bringen sollte:”was ist der Mensch?”. Das Buch ist mehr ein Streifzug durch die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte und wäre fast nur ein Sammelsurium, wenn nicht durch dieses Muster tatsächlich einige interessante Spuren ins Okular gerieten. Für mich war einiges neu. Das Problem ist aber nicht nur die Unbestimmtheit der Hypotaxe , sondern allgemein die Grobheit dieses Musters. Mein erkenntnistheoretisches Instrument des Achsenkreises gibt mehr Mittel an die Hand und die Hypotaxe ist bei ihm auch nicht unbestimmt. Es gibt bezüglich des Achsenkreises überhaupt kein Viertes, sondern dieses Vierte war nur das Eine in den Dreien, zwischen denen jeweils eine Beziehung besteht: das vermeintliche Vierte  ist schon auf den Erkenntnisgegenstand reduziert, bevor wir es wahrnehmen können. Man kann auch sagen: der Erkenntnisgegenstand ist das einzige Axiom, wodurch Gödelsche Schwierigkeiten gar nicht auftreten können. Die Einfachheit seines “alteuropäischen” Musters verführt Brandt dagegen zu einer noch einfacheren Theorie der Moderne: an die Stelle des alteuropäischen 1,2,3/4 tritt die Serialität. Seine weiteren Ausführungen verraten, dass er damit nicht groß etwas anderes meint als Habermas mit seiner Unübersichtlichkeit. Ich halte das für ein Eingeständnis der geistigen Ohnmacht. Dieses theoretische Rudiment gibt aber nur das Ende des Buches und auch dort wird sich nicht nur zurückgesehnt, sondern auch eine Praxis beschrieben, allerdings nur die , die Brandt selbst in seinem Buch ausgeübt hat. Er schließt mit einer geschichtlichen Einteilung der Kultur Alteuropas in drei Weltalter (die “feststehende klassifikatorische Institution”: Antike, Mittelalter, Neuzeit), die durch das Vierte der Gegenwart abgeschlossen und gleichzeitig verlassen wird. Also nicht viel anders, als die Soziogenese durch die Simplexität erscheint.Nur um zu zeigen, wie sich Parataxen – deren Nebenordnung auch noch näher bestimmt werden müsste – in ihrer Vielfalt ordnen ließen: man stelle sich eine Tabelle mit drei Zeilen und drei Spalten vor (siehe Genese), die neben den Zeilen- und Spaltenkategorien und den dadurch bestimmten Zeilen und Spalten auch noch Diagonalen aufzuweisen hat, also mindestens 12 Erkenntnisgegenstände (weil, wenn man die Diagonalen mitrechnet, die mittlere Spalte und die mittlere Zeile doppelt gerechnet werden müssen) zum Erkenntnisgegenstand, der durch die Tabelle ausgedrückt wird. Wenn man diese 12 Parataxen bestimmen kann, steht die theoretische Aussage mit allergrößter Sicherheit auf fruchtbarem Boden. Diese Arbeit muss man m.E. tatsächlich auf sich nehmen. Ansonsten bleibt vielleicht bezüglich dieses Buches nur die Frage: wenn man das Muster 1,2,3/4 als Tanzschritt auffassen würde, wo wäre dann der Unterschied zur Serialität?(Breite:7/Tiefe:5/Höhe:1/Gesamt:4,33)

Dirk Baecker über Korrekturen der Arbeitswertlehre (26.6.2007)

Dirk Baeckers Ende Juni in Wien am Institut für Wissenschaft und Kunst  gehaltener Vortrag “Marx, Lenin und Mao: Korrekturen der Arbeitswertlehre”  beschäftigt sich mit der Marxschen Arbeitswertlehre vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Relevanz (der Text war mal als pdf.-Datei online, wurde dann veröffentlicht in: Manfred Fuellsack(Hrsg.): Verwerfungen moderner Arbeit. Zum Formwandel des Produktiven. Bielefeld 2008, S.151-166). Zuerst einmal kann Baecker sie nicht alleine für sich stehen lassen, obwohl er behauptet , dass Marx über das Kapital “alles Erforderliche”  gesagt hat. Denn das Kapital reicht als Variable nicht aus, den Wert der Arbeit festzulegen, obwohl es sie ersetzen kann. Es kann sie natürlich nicht immer ersetzen, schon gar nicht als Potential des menschlichen Lebens. Es kommen also noch weitere Kontexte hinzu, unter denen die Arbeit ihren Wert erhält. Wie so häufig kommt Baecker nicht ohne Spencer-Brown aus. Er braucht für seinen Entwurf einer “soziologischen Arbeitswertlehre” diese Verkürzung auf eine Spencer-Brownsche Gleichung, die aber in diesem Vortrag genug Anschaulichkeit erhält. Man kann sie diachronisch als normative Anreicherung des Arbeitsbegriffes aufgrund des kulturellen Fortschritts der Moderne lesen.  Die weiteren Variablen in dieser Gleichung und somit Kontexte bei der Bestimmung des Arbeitswertes sind die Nation, die Bildung, die Kunst, das Leben und das Nicht-Wissen. Für die nationale Korrektur der Marxschen Arbeitswertlehre soll Lenin stehen, für die Bildungs-Korrektur Mao. Damit verwebt Baecker explizit Geschichtliches mit Inhaltlichem. Eigenartigerweise berichtet Baecker nichts von den anderen Seiten der Korrekturen. Bei Lenin steht der nationalen Mobilisierung der Produktivkräfte die Missachtung der Entwicklungspfade anderer(?) Nationen gegenüber, bei Mao der Bildung der Volksmassen die Unterdrückung und Niedermetzelung von Intellektuellen.  Bildung firmiert hier aber sonst  nur als verwertbare Bildung, als Qualifikation. Der neue Mensch war jedoch auch Maos Ziel, was auch im Text anklingt, und der Nationenbegriff wird vollends seines bürgerlichen Kontextes entkleidet, so als ob sich Baecker weggeworfener Schablonen bedienen würde, die Ahistorizität vor der Geschichtstapete funkeln lassen will. Da wir die Arbeit und ihren Wert betrachten, ist das vielleicht nicht verwunderlich. Eine Champagner-Party in der Altbauwohnung! Wenn man an die Rohstoffe herankommt, ist nichts dagegen zu sagen.  Aber machen nicht gerade die einseitigen Sichtweisen der Administration der nationalen, wirtschaftlich fundierten Stärke bzw. der politischen Formatierung des Kapital(nicht)verkehrs und der verwertbaren Bildung die weiteren Korrekturen Kunst und Leben erforderlich, die dann als ausgezeichnete Reflexionswerte fungieren (sie sind zwar spätere Kontexte, aber anscheinend soll sie darüber hinaus noch etwas auszeichnen)?  Inwieweit die Bedeutung der Nation in der Weltkultur nach John W.Meyer hier überhaupt für die Argumentation gebraucht wird, bleibt auch offen. Baecker kann den Bezügen nicht Genüge tun. “Man muss sich jeweils zuerst auf bestimmte Bestimmungen des Kapitalzusammenhangs, des nationalen Umfelds, des Bildungsumfangs, des künstlerischen Selbstverständnisses oder der Lebenserwartungen einlassen und kann dann erst auf die anderen Werte der Variablen reflektieren, um sich anzuschauen, welche Konsequenzen die eine oder andere Entscheidung hätte”. Man sieht an der bestimmten Reihenfolge, dass die Logik von Spencer-Brown durchaus klare Aussagen zulässt; nur stimmtdiese auch? Oder ist die Baeckersche Annäherungsweise zu subjektiv, als dass man danach fragen dürfte? Es hilft, wenn man sich die Kontexte, an die sich die Texte anpassen müssen (also z.B. das Kapital an die Nation) , die selber vorher Kontexte waren, zuerst durch konzentrische Kreise veranschaulicht (ein Kontext in einem anderem Kontext), bevor man sich ihrer durch die Gleichung vorgesehenen Iteration und Rekursivität  zuwendet, die letztlich in ihrem vorläufigen Resultat die Arbeit mit ihrem Wert definieren sollen. Dann liegt hier eigentlich keine Polykontextualität (und wo Polykontexturalität?, bitte genauer!) vor, da es immer nur einen nächstenKontext zum Text gibt. Baecker spricht davon, dass zwischen den benachbarten Gliedern der Reihe disjunktive und transjunktive Beziehungen bestehen. Wenn wir die allgemeine Beziehung zwischen ihnen definitiv als “Kon(transjunktiv)-Text(disjunktiv)” begreifen würden,  könnten wir sie in zwei Anpassungen, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen, auflösen: z.B. in die Anpassung des Kapitals an die Nation und diejenige der Nation an das Kapital. Der Begriff der Anpassung würde so die Darstellung einer Disjunktion und die dazukommenden jeweiligen Selbstanpassungen jene einer Transjunktion erlauben (wenn man diese Begriffe nicht allzu genau nimmt!). Hier dürfte dann durchaus gefragt werden, inwiefern  in die so durchschaute Beziehung zwischen Kapital und Nation die wohlfahrtstaatliche Differenz mit ihren Bildungs- und Lebensimplikationen eingebaut ist.

Aber wie bitte schön, Herr Baecker,  halten sie überhaupt die Kunst aus dem Kapital heraus, oder gar das Leben aus der Nation, um sie später als Kontexte zu präsentieren. Der Schumpetersche Unternehmer wird sogar erwähnt. Dieser ist aber auf die eigene oder fremde Kreativität angewiesen, um neue Waren anbieten zu können und hierfür haben künstlerische Selbstverständnisse z.B. der Renaissance wohl Vorarbeiten geleistet, sodass er nicht ohne die Kunst gedacht werden kann. Die Nation, die sich durch die Geburt in ein gemeinsames Schicksal ergibt, wie ist sie ohne Leben zu denken? Wo ist die Lücke zwischen Nation und Leben in einer Iteration zu finden? Am ehesten synchronisch lässt sich diese Reihe Kapital – Nation – Bildung – Kunst – Leben als eine Bewegung von der toten Allgemeinheit zur lebendigen Wirklichkeit des Individuums interpretieren, aber die Begründung der Reihe der Korrekturen bemüht doch Reflexionswerte und stellt somit vielleicht nur eine Essentialisierung dar. Was bringen Baeckersche Korrekturen mehr als bundesrepublikanische Reformen? Ein bisschen Utopie! Und wieso benutzt der systemtheoriegeschulte Baecker die utopische Form? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem Luhmann seine autopoietische Wendung vollzog. Bei der bloßen Differenz würde man es nur belassen können, wenn man schon verstanden hat. Mein Ratschlag: das Herr-Knecht-Verhältnis und ihre Beziehungen zu Leben und Tod  noch einmal  bei Hegel nachlesen! Wozu etwas korrigieren, das selber nur eine Korrektur eines originären Gedankens war? Zieht einen Summenstrich (keinen Schlussstrich!) unter die Marxsche Buchhaltung des deutschen Idealismus! Wozu auf ein Konto einzahlen, das nie eröffnet wurde? Kann man mehr als nur eine Lehre, eine Lehre der Lehre, das Zu-wirklich-Nehmen der Wirklichkeit, die Begrifflichkeit des Scheiterns aus der Marxschen Lektüre ziehen? Oder welche transsystemische Wende peilt Baecker mit diesem Vortrag an? Klammert man das Nicht-Wissen als unspezifische Zutat aus, bleiben fünf Variablen – wie in meinem Dodekaeder-Modell der Ethik, wo an jeder Grundbestimmung fünf weitere  Grundbestimmungen als ebensolche Fünfecke anliegen. Die Vorteile meines Modells: die quasi mathematische Geschlossenheit der Repräsentation von Wissen, eine Vollbestimmung von Variablen, die man Baeckers Gleichung nicht attestieren kann. Durch diese Geschlossenheit wird das Feld, in dem sich das Nicht-Wissen verbirgt, durch die Form des Wissens abgesteckt. Dann fällt man hinter dem Horizont nicht ins Bodenlose der Negation!(Tiefe:5/Höhe:3/Breite:3/Gesamt:3,67; diese Bewertung ist aber ein wenig unfair, weil Baecker in seinem Vortrag nur eine Skizze einer möglichen Theorie vorstellt und nicht ein bereits ausgearbeitetes Werk zusammenfasst)

Dirk Baecker: Zur Kontingenzkultur der Weltgesellschaft (Juli 2007)

Dirk Baecker beschreibt in seinem Aufsatz (war ebenfalls mal als pdf.-Datei online, wurde dann in dem von ihm mitherausgegebenen Buch “Über Kultur.Theorie und Praxis der Kulturreflexion”  veröffentlicht), wie die Verortung der Kultur im weltgesellschaftlichen Rahmen vorzunehmen ist. Er beweist damit seine avancierte Stellung unter den Theoretikern der Weltgesellschaft. “Avanciert” ist natürlich eine sehr relative Kategorisierung. Die Soziologen-Zunft lässt auf diesem Terrain oft klare Aussagen vermissen. Auch Baecker kann man dabei nicht gänzlich ausnehmen. Versucht er sogar, die Zurückhaltung in dieser Hinsicht durch den Hinweis auf “Takt”-Gefühl zu kaschieren? So etwas funktioniert nicht immer! Alles nur “Takt-ik”! Doch in diesem Aufsatz wird durchaus ein Standpunkt identifizierbar: für den Kulturenrelativismus (pro-kulturenrelativistischer Weltkultur-Begriff), was die allgemeine Differenz zwischen den Kulturen angeht, und gegen den Kulturenrelativismus (contra-kulturenrelativistischer “world polity”-Begriff) bezüglich der rationalen Weltordnung. Das kann nur auf die eine These hinauslaufen, dass die rationale Weltordnung nicht nur mit der allgemeinen Kulturendifferenz koexistiert, sondern in ihr ihre Begründung und ihr Betätigungsfeld findet. Die Baeckersche Kulturtheorie ist die “Theorie des Saatfeldes”, das den Gärtner braucht, der die Beete hegt und pflegt, denn zwischen den Reihen gibt es Unkraut etc. . Aber Baecker will nur ein schlechter Gärtner sein. Eigentlich hat er nichts gegen das Unkraut. Er will das Chaos “in der Form selbst mit in den Blick” nehmen (vgl. hierzu den Verweis auf mein Dodekaeder-Modell  in der Kritik der Baeckerschen Arbeitswertlehrekorrekturen). Also: eine “Theorie des schlecht bestellten Saatfeldes”. Das mindert auch die theoretischen Erträge. Er möchte einen modernen Kulturbegriff von einem antiken Kulturbegriff abheben. Die moderne Kultur entsteht für ihn durch den Vergleich und die antike Kultur bezieht sich auf die Pflege (und entsteht auch durch die Pflege?). Verglichen und nicht gepflegt werden in der Moderne – also auch noch heute – die je spezifischen Lebensformen. Er spricht von Kontexten. Die eigene Lebensform wird in den Kontext des Vergleiches gestellt. Er verwendet hier wieder eine Spencer-Brownsche Gleichung. Der Kontext des Vergleiches ist das Gedächtnis. Wieder wirkt hier einiges zu schablonenhaft, aus Theorien zusammengesucht. Der “Vergleich der Kulturen” findet “im Kontext der Gedächtnisfunktion der Gesellschaft” statt. Setzen wir hier statt Kultur Lebensform erkennt man wohl die sprachliche Form (Genitiv), in der die Spencer-Brownsche Gleichung hier auch auszudrücken ist; mit ihren spezifischen fünf Variablen: die moderne Kultur ist die Weltgesellschaft der Evolution des Gedächtnisses des Vergleiches der Lebensform. Es wird also die moderne Kultur nach der Reihe ihrer Kontexte bestimmt, zuerst als Lebensform, die wohl als gesetzte Differenz (von Selbst und Welt?) Kontextcharakter besitzt, und letztlich als Weltgesellschaft und dann schließt sich der Kreis durch die Außenseite dieser Gleichung (vereinfacht), bevor die nächste Schleife durchlaufen wird. Die Kultur der Weltgesellschaft soll bei jedem Durchlauf als eine Kontingenzkultur klar herausgekommen sein: in der Kontingenz der Lebensform, die durch den Vergleich mit anderen Lebensformen bestimmt wird, dessen Kontingenz durch das Gedächtnis anderer Vergleiche (mit dem Nebeneffekt der Herausstellung der Unvergleichbarkeit der Lebensform), dessen Kontingenz durch die Evolution anderer Gedächtnisse (mit dem Nebeneffekt des Vergessens des Vergleiches), deren Kontingenz wiederum durch die Weltgesellschaft anderer Evolutionen (mit dem Nebeneffekt der Retention des Gedächtnisses, des Vorurteils), deren Kontingenz zuletzt (vor dem erneuten Durchlaufen der Schleife) durch “die mitlaufende Reflexion auf die unbestimmte Außenseite der Form” der Weltgesellschaften (mit dem Nebeneffekt der Reflexion der Evolution hinsichtlich der Unterscheidung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen(?)). Man kann diese Gleichung auch als Minimierung kognitiver Nebeneffekte und Maximierung normativer Nebeneffekte lesen: die Minimierung kognitiver Nebeneffekte durch die höhere Analyzität des späteren Kontextes (“Säen”), die Maximierung normativer Nebeneffekte durch die höhere Synthezität bei der Konstituierung der Reihe in Richtung der späteren Kontexte (“Aufblühen”). Hinzu kommt noch eine Zirkularität bei der Erzeugung der Nebeneffekte: es entsteht eine Dimension der Eigentlichkeit, ohne die Effekt und Nebeneffekt nicht zu unterscheiden sind (“Wachstum”). So verfolgt der Gärtner den Weg des Pflänzchens von dem Keim zur Frucht.

Wie sieht es jedoch weiter mit dem Inhalt aus, der Logik der Verknüpfung der Glieder der Reihe?Wie kommt es, dass Baecker bei der modernen Kultur anfängt und bei der Weltgesellschaft aufhört, die dann das konstruierteste Glied der Reihe ist, überhaupt nur noch ein Konstrukt. Er weiß sich nicht anders zu helfen. Denn er muss die Reihe mit einem bestimmten Begriff beenden und sieht sich in seiner Theorie auf seine eigene Position als Verfasser dieses Textes zurückgeworfen und wendet nur an, ohne zu denken – in der Schuld Luhmanns. In Abgrenzung zur Kulturkritik verortet er die Prämisse der Kulturreflexion in der Selbstkulturbeschreibung  der Fremdkulturbe – schreibenden. Wieder – wie bei Luhmann – der falsche Gegensatz von “Selbst-” und “Fremd-”. Der Takt als Grenze. Die Systemtheorie als kulturelle Sprache. Der richtige Begriff  mit dem falschen Gegensatz. Man wird hier unvermeidlich von der Subjekt-Objekt-Differenz, der Relativierung,  eingeholt. Die Kulturbeschreibung trifft auf den Bezugsgegenstand subjektiv und auf den Beschreibenden objektiv zu, eine Trivialität. Nicht nur durch die Schwäche beim letzten spezifischen Glied der Reihe und dem Unsinn des globalen Vergleichs von lokalen Möglichkeiten verführt, setzt Baecker die Kultur der Weltgesellschaft nach dem modernen Kulturbegriff mit der Kontingenzkultur der Weltgesellschaft gleich, bezieht sich aber eigentlich nur auf die Konstruk – tionsbedingungen der Identität einer Weltkultur bzw. nur auf eine singuläre Weltkultur (z.B. Europa).

Die Reihe lässt sich nämlich in der Folge der Kontingenzbestimmungen durch die Kontexte als Rationalisierung und in Bezug auf die Nebeneffekte als Virtualisierung lesen. In der ersten Lesart beschreibt Baecker die Weltkultur in einer am Gegenstand klebenden Weise – ohne jede Distanz, in der zweiten beschreibt er sich selbst – in einiger Distanz zu sich. Ich möchte aus dem Text die Anregung ziehen, hiermit eine eigene Version der Beziehung zwischen Kontingenz und der Weltkultur vorzustellen. Für mein Modell brauche ich zunächst nur die Unterscheidung “Zentrum”/”Peripherie” aus dem “world-polity”-Modell, mit der ich aber auch die Weltwirtschaft und die Weltkultur darstellen will. Diese Unterscheidung gilt hier also universal für alle drei Bereiche. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen Zentrum und Peripherie ist auch hier die Rationalität. Im Zentrum konzentriert sie sich, zur Peripherie hin nimmt sie ab und erreicht in der äußersten Peripherie ihr Minimum. Den Kreis mit einem Mittelpunkt können wir als zeichnerische Darstellung wählen. Der Gegenbegriff der Rationalität ist die Irrationalität, die sich gerade an der Peripherie konzentriert. Unverständlich an Baeckers Modell ist, dass er seine Theorie lediglich auf die Welt fokussiert, den Begriff des Selbsts höchstens als Psychisches im Zusammenhang mit dem Organischen und dem Sozialen in den Blick nimmt. In meinem Modell ist das rational Durchdringliche zwischen Mittelpunkt und Kreis die Welt, das rational Undurchdringliche dazwischen die Selbsts (vgl. die von mir so gekennzeichneten “Nebeneffekte” in seiner Theorie) bzw. die Letzteren sind irrational durchdringlich und die Welt  irrational undurchdringlich. Die rationale Durchdringung der Welt geht in der Weltpolitik vom Zentrum aus, sich zur äußersten Peripherie fortsetzend. Die Welt und die Selbsts werden in der Weltwirtschaft von innen bzw. außen gleichzeitig durchdrungen (gegenseitige Durchdringung), also die Selbsts irrational von außen und die Welt rational von innen. Marxens Fehler lagen wohl darin begründet, nicht zwischen diesen beiden Durchdringungen zu trennen, bzw. wenn, nicht mehr die Wirtschaft im Blick zu haben, sondern die Kultur in wirtschaftlichen Begriffen. In der Weltkultur werden die Selbsts von der Peripherie aus zur Mitte hin irrational durchdrungen – ohne dass das Zentrum irgendwie zur Gegenwehr bereit wäre. Wie gesagt, ist das Unterscheidungsmerkmal die Rationalität (bzw. die Irrationalität). Es ist hier also mit “Peripherie” nicht oder nicht nur die “Dritte Welt” etc. gemeint.

Wie entstehen nun Kontingenzen? Baecker verweist darauf, dass erst einmal die eigene Ungewissheit anerkannt werden muss, bevor sich durch die Beobachtung zweiter Ordnung Koordinationsmuster ergeben können, mit denen man nicht rechnen kann. Man kann hier vielleicht von Wegkontingenzen sprechen, die durch die Auszeichnung der Welt gegenüber dem Selbst entstehen. Nicht näher bestimmt gibt es Kontingenzen nur im Bereich der Kultur. Wenn es sie auch in der Politik und der Wirtschaft gibt, sind sie durch einen Rückgriff auf Kulturelles erklärbar. Das macht es einfach (idealistisch triplizitätsmäßig?). Es gibt überhaupt nur drei Arten von Kontingenzen: Kontingenzen mit Bezug auf die virtuelle Differenzierung, also Zielkontingenzen, Kontingenzen mit Bezug auf die virtuelle Reproduktion, also Wegkontingenzen und außerdem noch Grundkontingenzen. Zielkontingenzen entstehen im Gegensatz zu den Wegkontingenzen dadurch, dass das Selbst gegenüber der Welt ausgezeichnet wird. Grundkontingenzen im Gegensatz zu den Ziel- und Wegkontingenzen dadurch, dass Welt und Selbst nicht gegeneinander ausgezeichnet werden. Kontingenz wird erfahren, wenn die Rationalität in ihrer Bewegung zur Peripherie hin und die dort befindliche Irrationalität bzw. die Irrationalität in ihrer Bewegung zur Mitte hin und die dort befindliche Rationalität aufeinander – treffen. Die dritte Möglichkeit ist das ruhige Aneinanderstoßen von Rationalität und Irrationalität.

Die Kultur erhält nun ihren Ort in Beziehung zur Welt und zum Selbst dadurch, dass die Kontingenz zwischen ihrer Entstehung und ihrer Erfahrung auch noch reproduziert und differenziert werden muss. Kultur ist so einerseits der explizite Bestandteil eines analytischen Selbst-Begriffes und ebenso eines analytischen Welt-Begriffes und andererseits genauso impliziter Bestandteil des synthetischen Selbst-Begriffes wie des synthetischen Welt-Begriffes. Es geht also nicht  – wie Baecker meint – um das Auseinanderziehen von Weltpolitik und Weltkultur. Beide werden in meinem Modell zwar mit Hilfe der gleichen Variablen, aber durchaus unabhängig voneinander bestimmt. Vielmehr geht es in diesem Zusammenhang um die Komplementarität von Selbst und Welt in ihren zwei asymmetrischen Verhältnissen, der Religion und der Suspension. Ich schlage “Suspension” (das Emporheben und In-der Schwebe-Lassen) als Gegenbegriff zu dem Begriff der Religion (die Rückbindung) vor. In der Religion  steht die in ihre Bestandteile Kultur und Menschheit auseinander – gezogene Welt dem Selbst gegenüber und in der Suspension das in seine Bestandteile Mensch und Kultur auseinandergezogene Selbst der Welt.

Suspension:

a.  Die synthetische Welt reproduziert transzendente Grundkontingenzen.

b. Das analytische Selbst differenziert immanente Wegkontingenzen.

Religion:

a. Die analytische Welt reproduziert immanente Zielkontingenzen.

b. Das synthetische Selbst differenziert transzendente Grundkontingenzen.

Den Bereich der Religion umgeht Baecker völlig – aus Taktgefühl? Sie muss aus seiner Theorie herausfallen, wenn er aus dem von J.W.Meyer übernommenen Weltpolitik-Begriff die (Welt-)Kultur heraustrennt. Die Suspension taucht wohl in seiner Theorie im Zusammenhang mit dem letzten  und schwächsten spezifischen Glied der Reihe, der Weltgesellschaft, auf.

(Tiefe:6/Höhe:5/Breite:4/Gesamt:5)

Ulrich Menzel: “Von Asien lernen” Revisited (2007)

Ulrich Menzel (Professor an der TU Braunschweig) gehört zu der Sorte  von Lehrstuhlinhabern,  die sich gerne in Diskussionen einmischen, bei denen kaum Aussicht besteht, dass sie relevante Ergebnisse zeitigen, für die schon der gesunde Menschenverstand ausreichen könnte, weil 1. das nötige Erfahrungswissen zur Zeit noch fehlt und 2. die Zukunft mit Sicherheit die Erwartungen übertreffen wird. Warum auch die eigene Position als Diskursbegleiter gefährden? Entwicklungspolitik ist für ihn nicht viel mehr als ein Steckenpferd – wie für manche ihre Käfersammlung. Doch dann musste er feststellen, dass seine exotischen Käfer nun massenweise aufgesammelt werden können und sein Wissen ungefähr so exklusiv war wie das eines Frühpubertierenden, der den Anschaltknopf beim Fernseher dann doch noch findet. Doch nun ein neuer Dreh: das Untersuchungsobjekt ( die Entwicklungsländer) sind wir selber. Wieder läuft es auf “reagieren statt agieren ” hinaus. Es werden die Verlierer und die Gewinner des Globalisierungsprozesses ausfindig gemacht und der Gewinner wird automatisch als derjenige angesehen, der die Regeln vorgibt, worauf dann der Staat der Verlierermannschaft entsprechend reagieren muss. Er fügt hinzu: “In dieser Debatte darf es keine Tabus geben”. Erschießungen nur im Notfall! Zwei grundlegende Fehler liegen in seiner Argumentation vor : ein charakterlicher (die Welt auf Verlierer und Gewinner zu reduzieren) und ein unverständlicher inhaltlicher (dass Europa Nachhilfe in Sachen Staatlichkeit bräuchte). Es wird jetzt also nicht mehr nach den selbstverursachten Defiziten des Standes der Entwicklungstheorie gefragt, sondern die Erfordernisse von theoretischer Wahrheit werden schon gar nicht mehr ernstgenommen. Alle Verlierer liegen schon neben den Toten im Grab, die Überlebenden müssen zusammenhalten!

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Rudolf Stichweh: Das Konzept der Weltgesellschaft(11/2005)

Die Weltgesellschaft will sich als Untersuchungsobjekt einfach nicht ergeben. Selbst Soziologie-Professoren wie Rudolf Stichweh (lehrt Soziologie in Luzern), die sich karrierelebens auf sie spezialisierten, kommen über ein Konzept nicht hinaus und legen bisher keine Theorie von ihr vor. Stichweh präsentiert in seinem Text “Das Konzept der Weltgesellschaft: Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschafts – systems” (pdf.-Dokument hier) eine unabgeschlossene Liste von Funktionssystemen und weiteren Formen, die strukturbildend Voraussetzungen für das Aussehen der Weltgesellschaft schaffen. Anhand der zahlreichen Einzelaussagen gäbe es viel zu kritisieren: z.B. die unkritische Übernahme von Luhmannschen Begriffen und Konzepten. Bei den Formen der Strukturbildung geht es eigentlich nur darum, dass der Aufbau der Weltgesellschaft an die Vorgaben der Soziogenese anschließen muss, die Technik Hindernisse des Wissenstransportes von Ort-zu-Ort und von Mensch-zu-Mensch tendenziell beseitigt und dass Organisationen teilweise Behälter eines beschleunigten Transportes von spezialisierten Wissen abgeben. Stichweh begnügt sich hier mit der Oberfläche (u.a. “Weltereignis” und “epistemic communities”).   Also könnte theoretisch die Weltgesellschaft nur unser Bild von ihr sein? Netzwerkknoten lediglich als Spiegelpunkte? Reicht eine negative Definition der Weltgesellschaft?

Ganz lässt uns Stichweh nicht im Stich. Er unterscheidet drei Mechanismen der Evolution der Weltgesellschaft.Wie funktioniert also  – nach der Luhmannschen Begrifflichkeit – die auf die Weltgesellschaft bezogene Variation, Selektion und Restabilisierung?   Der Mechanismus der globalen Selektivität (globaler Selektionshorizont) soll für die Variation verantwortlich sein. Die Variationen sollen im Mikrobereich der individuellen Kommunikationen und Entscheidungen entstehen – wenn wir (überspitzt formuliert) “Du” meinen, aber “Alle” denken. Die Anmaßenden wollen das Weltbeste und die Bescheidensten (hier Superlativ angebracht?) zumindest nicht das Weltschlechteste. In eine ähnliche Richtung geht ja auch Baecker mit seinem globalen Vergleich lokaler Möglichkeiten. Allerdings scheint hier Stichweh eher globale Differenzen systematisch in den Blick zu nehmen. Ein weiterer Mechanismus ist nach Stichweh die globale Kategorienbildung, “die zur Grundlage globaler Diffusionsprozesse in der Weltgesellschaft werden kann”. Leider wird hier das Gemeinte nicht anspruchsvoll mit Beispielen belegt, sondern nur mit dem Verweis auf Rollenzuschreibungen und Organisationszusammenhänge. Dieser Mechanismus  muss für die Selektion innerhalb der weltgesellschaftlichen Evolution stehen: die Homogenisierung. Als Restabilisierung würde er in dieser Konzeptualisierung keinen Sinn ergeben. Für Stichweh ist die Homogenisierung ein Phänomen im Makro-Bereich der Weltgesellschaft.

Dies war aber schon der dritte Mechanismus; den zweiten nennt er globale Interrelation, “der mit evolutionärer Drift verwandt scheint. In einer sequenziellen Kette von Netzwerkknoten vollziehen sich von Punkt zu Punkt kleine Sinnverschiebungen, die nicht leicht beobachtbar sind und die die Selektionsmechanismen unterlaufen mögen”. Wir nehmen mit Mitgliedern fremder Kommunikations – zusammenhänge Kontakt auf und langsam bahnt sich etwas an: “auch Wirkungen werden transferiert, die an entlegenen Orten Anschlüsse erzeugen”. Stichweh verweist auf die “small worlds” und den Meso-Bereich  der Weltgesellschaft. Wenn er damit so etwas wie “Fernbeziehungsfleißarbeit” meinen würde, dann wäre die “evolutionäre Drift” nur Illusion, Staub oder bestenfalls Tau – der bei der ersten Morgenwärme verdampft? Aber, poetisch ausgedrückt: ist der Mensch nicht selbst eine Illusion, die durch das Licht in den Tag steigt?Stichweh unterschied in seinem im Jahr 2000 erschienen Buch “Die Weltgesellschaft” (S. 254 – 262) noch Nahwirkungstheorie und Fernwirkungstheorie: globale Interrelation durch Nahwirkung (bzw. Nahwirkungsketten) und globale Kategorienbildung durch Fernwirkung. Die Inkonsequenz dieser Unterscheidung scheint er eingesehen zu haben. Damals gab er als dritten Mechanismus noch die Dezentralisierung in Funktionssystemen an, die nun nur noch als eine Form der Strukturbildung identifiziert wird. Stattdessen wird nun die globale Selektivität (die Entstehung von Variationen im Mikrobereich) als dritter Mechanismus genannt. Deshalb ist nun  der in seiner Systematik korrigierte Begriff der globalen Interrelation zu hinterfragen. Die globale Interrelation sorgt für die Diversifizierung in der Weltgesellschaft und erfüllt die Restabilisierungsfunktion in ihrer Evolution (insofern ich richtig verstanden habe). Es bilden sich also Ketten z.B. des persönlichen Kennenlernens, die aber jeweils vom Einzelnen stabilisiert werden müssen, die also ein soziales Feld beschreiben. Aufgrund  dieser Aufrechterhaltung firmiert  dieser Einzelne in der Netzwerktheorie dann auch als ein “Knoten”.   Man könnte  diese Leistung des Subjektes im Notfall ebenso noch als “Fernbeziehungsfleißarbeit”   bezeichnen wie die mediale Überfütterung oder die infrastrukturelle Unterfütterung eines Netzwerkes. Wie oberfächlich können also die Relationen im Netzwerk sein und wie ist die Einstellung der Personen zu ihnen? Ein anderes großes Thema von Stichweh betrifft die soziale Inklusion bzw. Exklusion. Im Grunde geht es bei der globalen Interrelation auch um das Brückenbauen und das Grenzenziehen (der Raum als Metapher des Sozialen) und die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit der durch Interaktion vermittelten sozialen Beziehungen (die Zeit als Metonymie des Sozialen). Dadurch wird schon sichtbar, bei welchem Mechanismus die nächste Korrektur ansteht: bei der globalen Kategorienbildung.

Bezüglich der Netzwerktheorie ist die Analogie zum Aufbau des Gehirns sehr erhellend. Im Gehirn gibt es auch nicht   nur die Relationierungen in der Hirnrinde, sondern auch das limbische System, das entwicklungsgeschichtlich älter ist.  Ganz abgesehen davon, dass die Hirn-DNA bei jedem Menschen eine andere ist. Es spielt also nicht nur die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit eine Rolle, sondern auch die Nachzeitigkeit und Unnachzeitigkeit, die wohl bei der globalen Selektivität zu berücksichtigen wäre. Die globale  Kategorienbildung besitzt dagegen nicht den gleichen systematischen Stellenwert. Eine Verbindung zwischen Vorzeitigkeit/Unvorzeitigkeit(verschiedene DNA) und dem Stichwehschen Begriff der globalen Kategorienbildung herzustellen, ist nicht gerechtfertigt. Außerdem dürfen noch bezüglich aller drei Mechanismen geschlechtsspezifische Unterschiede nicht vernachlässigt werden.

Wenn globale Selektivität nicht viel mehr heißt als kommunikative Basis(bottom) und globale Kategorienbildung nicht viel mehr als kommunikativer Überbau(top), sind wir dann in der Lage, die Weltgesellschaft zu verstehen? Dann wären mit Sicherheit keine realen Prozesse angesprochen worden. Meiner Meinung fehlt ein wesentliches Element: die Energie, ohne die all diese Prozesse nur Fürze im Wind wären. Dass Stichweh nichts davon schreibt, scheint mir noch kein Indiz dafür zu sein, dass er sie nicht für seine Theorie braucht. Insofern kann ich die Tiefe seines Ansatzes bezüglich der weltgesellschaftlichen Evolution nur anhand des Ausgeführten einschätzen.

Bevor ich meinen Lösungsansatz zu dem von Stichweh aufgeworfenen Problem präsentiere, wäre darauf hinzuweisen, dass Stichweh stillschweigend die semiotische Ebene als Grundlage für die Bestimmung der weltgesellschaftlichen Evolution wählt.  Morris unterscheidet in der Semiotik  Syntaktik, Pragmatik und Semantik. Der Zusammenhang von weltgesellschaftlicher Semantik und globaler Kategorienbildung ist offensichtlich, ebenso jener zwischen der weltgesellschaftlichen Pragmatik und der Bildung von kleinen Welten (Stichweh verzichtete hier  leider darauf, den Interessenbegriff zur näheren Klärung zu verwenden). Meine obige Überspitzung sollte aber auch den Zusammenhang von weltgesellschaftlicher Syntaktik und globaler Selektivität deutlich gemacht haben (z.B.  Regeln bezüglich der Stellung der Wortklassen innerhalb des Satzes). Ich will den Unterschied zu meinem theoretischen Ansatz deutlich machen: die Syntaktik verhält sich zur Komplexität wie Drum ‘n’ Bass zu Musik, Pragmatik zur Simplexität wie Fight-Clubs zu Sport und Semantik zur Perplexität wie Flatrate-Saufparties zu Jugend.

Ich möchte das Fehlende explizit machen, die Prozesse mit Energie füttern und damit gleichzeitig auf einen Marxschen Subtext aufmerksam machen. Marx favorisierte gegenüber dem weltfremden, philosophischen Credo “das Bewusstsein bestimmt das Sein” die Aussage “das Sein bestimmt das Bewusstsein”. Was ist aber, wenn hier überhaupt keine normativ-optionale Alternative besteht, sondern nur Minimaldefinitionen für die “Vorstellung”  (erste Aussage) und die “Einstellung” (zweite Aussage) bereitstehen? Hiermit werden Beziehungen berührt, die das Selbst zur Welt aufnimmt. Die Energie, mit der die Prozesse gefüttert werden müssen, ist im Selbst zu verorten, in seiner Fähigkeit zu hassen und zu lieben (und in seiner Unfähigkeit, dies nicht zu tun).

In einer weltgesellschaftlichen Ethik müssen Hass und Liebe verschiedenen Beziehungen des Selbsts zur Welt zugeschrieben werden: also der Hass als Einstellung und die Liebe als Vorstellung. Die Verbindung zum semiotischen Ansatz ist die Vollständigkeit, die einKennzeichen von Komplexität im Allgemeinen ist.  Sprachen müssen semiotisch vollständig bestimmt sein, sind dies aber in unterschiedlicher Weise (z.B. fehlen in manchen Sprachen ganze Wortklassen). Stichweh klärt uns nicht darüber auf, wie er die Beziehung z.B. zwischen der sprachlichen Diversität (Sprache als segmentäre Reproduktion) und der globalen Kategorienbildung konkret sieht. Das wäre aber interessant zu wissen, wenn die Reduktionsthese (Reduktion der sprachlichen Vielfalt), die er unter Einschränkungen selber für plausibel hält, nicht zutrifft.  Hass als Einstellung bedeutet, dass z.B. sich mein Hass auf eine bestimmte Person  auf alle Anderen, die genauso sind, ebenso bezieht.  Liebe als Vorstellung bedeutet, dass meine ganze Liebe bezüglich allem Möglichen sich in der Beziehung auf etwas Bestimmtes vereinigt. Bei Ersterem wird das Konkrete abstrakt und bei Letzterer das Abstrakte konkret. Diese verschiedenen Weltbeziehungszuschreibungen bezüglich des Hasses und der Liebe sind aber nur die Fundamente für konkrete Ausprägungen ethischer Formen. Diese Fundamente wurden in der Phylogenese(Logik), insbesondere der Soziogenese der Phylogenese gelegt und bedeuten nur einen vollständigen Bezug auf die phyletische Substanz des Lebens überhaupt.

Aber damit ist noch nicht Schluss. Was wäre dann die Entsprechung für die globale Interrelation? Womit wir uns in die Nähe des Marxschen Subtextes bewegen. Es müssen hierfür die Weltbeziehungen des Selbsts aufeinander bezogen werden. Die “Einstellung als Vorstellung” wäre in diesem Zusammenhang ein anderer Ausdruck für Gott, die “Vorstellung als Einstellung” ein anderer Ausdruck für Glaube. Beziehen wir diese nun wiederum aufeinander, erhalten wir den Marxschen Subtext: der Glaube an Gott. Marx fasst diese Zusammenhänge allerdings nur von einer Seite an, von der Einstellung her –  ohne den Bezug auf das Selbst deutlich zu machen, das von sich aus ja keiner Klasse zugerechnet werden kann.  Davon bleibt der Subtext aber unberührt. Ketzerisch gefragt: war Marx nur ein Parasit, der sich von den Gewissensbissen   einer postpietistischen Öffentlichkeit ernährte?

Ich ersetze also die globale Selektivität durch den “Hass als Einstellung” , die globale Interrelation durch das Aufeinanderbezogensein von der “Einstellung als Vorstellung” und der “Vorstellung als Einstellung” sowie die globale Kategorienbildung  durch die “Liebe als Vorstellung”. Über die Energieversorgung der Prozesse  konnten zwar die Begriffe des Bedeutungsfeldes gefunden werden, aber bislang sind noch nicht alle Bezüge des Beschreibungsfeldes abgedeckt worden. Inwiefern findet sich die weibliche Hälfte der Menschheit in diesen Begriffen und Zuordnungen wieder? Ich habe mich lediglich auf eine bestimmte Form  der  logischen Konjunktion  von Komplexität und Simplexität bezogen. In der weltgesellschaftlichen Ethik sind  in dem hier aufgezeigten Zusammenhang neun  (mit jeweils drei Ausprägungen) möglich und müssen dort aufgrund der ethischen Disjunktion wieder unter entweder Komplexität, Simplexität oder Perplexität subsumiert werden.  Ich habe in diesem Text nur die Aufklärung eines Aspektes der segmentären Formalität von Komplexität angerissen.

Das Stichwehsche Konzept der weltgesellschaftlichen Evolution kann ihre eigentlichen Strukturen aufgrund der Übernahme von Luhmannschen Fehlern nicht erhellen  und konzentriert sich (deshalb?) auf die sich akkumulierenden individuellen Beiträge , die – wie ich meine – den Kern seiner drei Mechanismen ausmachen. Ein derartiges Evolutionskonzept halte ich nicht unbedingt für falsch, weil es ja an die Phylogenese (Logik) anschließt und so  den Begriff der “Evolution” an seinen kategorialen Entstehungszusammenhang zurückbindet. Es ist dadurch aber noch nicht der Sinn der Existenz der Weltgesellschaft geklärt.  Es wäre abzuwarten, welchen Raum Stichweh in seiner geplanten Buchveröffentlichung zum Thema der Weltgesellschaft diesen Problemen gibt (und ob er diese überhaupt sieht)?

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