Kritik und Verriss(III)

Bruno Latour : Das Parlament der Dinge (1999)

Bruno Latours Buch “Das Parlament der Dinge” erschien unter dem Titel “Politiques de la nature” 1999 auf französisch und 2001 auf deutsch mit dem Untertitel “Für eine politische Ökologie”. Es hat mehr zu bieten als seine hier schon kritisierte Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Er spricht sich in “Parlament der Dinge” dafür aus, der  Unterscheidung “Gesellschaft”/”Natur”, deren Ursprung er bei den antiken Griechen verortet,  nicht zu folgen, sondern schlägt demgegenüber eine dazu querliegende vor: die Gewaltenteilung zwischen einbeziehender und ordnender Gewalt – und geht dabei nicht immer konsequent vor. Die Zuordnungen, die er vornimmt, sind zwar nachvollziehbar, aber wegen mangelnder Genauigkeit nicht unbedingt sehr weitführend, was die gesamte Anlage seines Konzeptes anbetrifft. Am Anfang steht das negative Bild der Höhle von Platon, in der die Menschen nur Schattenbilder sehen und aus der sich Auserwählte nach draußen auf den Weg machen, um das Licht der Aufklärung zu ihnen zu bringen. Statt Gesellschaft und Natur kann man nach Latour auch sagen Politik und Wissenschaft: in der Höhle des Sozialen die interessengeleitete Politik mit ihrer vorgeblichen Orientierung an Werten, die sich aber um die Tatsachen nicht kümmert, und draußen die Wissenschaft, die mit ihrer Berufung auf die Tatsachen der Politik und damit dem demokratischen Prozess das Wort abschneidet. Nach Latour kann man also den Gegensatz auch als jenen von Werten und Tatsachen beschreiben. Ziemlich viele Bedeutungsfelder – nicht wahr? Aber so weit, so gut. Er will eine politische Ökologie etablieren. Der Name gibt schon das Programm vor, denn in ihm wären Politik und Wissenschaft  nicht getrennt. Es soll gerade verhindert werden, dass eine Trennung eintritt. “In ihrer Praxis bringt die politische Ökologie die Rangordnung verschiedener Klassen von Wesen durcheinander, denn sie vervielfacht die unvorhergesehenen Verknüpfungen und variiert schonungslos ihre jeweilige Wichtigkeit”(S.42). Damit würde die politische Ökologie die Idee der Natur zerstören, “wenn man unter Natur einen Begriff versteht, durch den sich in einer einzigen geordneten Serie die Rangfolge der Wesen zusammenfassen lässt”(S.41). Er glaubt, dass nichts verlorengeht, wenn man auf den Natur-Begriff ganz verzichten würde – zumindest wenn man ihn im Singular gebraucht. Demgegenüber hätte ich keine Probleme mit einem mehrdeutigen Natur-Begriff (im Singular). Man könnte Latour vorwerfen, dass er nur einen szientifistischen Natur-Begriff zulässt, um ihn anschließend zu verwerfen.

Nun möchte Latour den Gegensatz von Tatsachen und Werten nur dann durch eine andere Unterscheidung ersetzen, wenn er das, wodurch er seine Funktion in der Moderne erfüllte, in anderer Weise beibehalten kann. Klingt ungefähr genauso logisch wie Luhmanns kommunikationspraktischer Ansatz. Aber statt einem dreistelligen Kommunikations-Begriff (vgl. Rubrik “Prominenz”) gibt es bei Latour einen vierstelligen Prozess, der zyklisch gedacht ist und dabei teilweise den Voraussetzungen widerspricht. Denn in den Spalten findet sich die alte Unterscheidung Tatsachen /Werte und in den Zeilen die neue Unterscheidung einbeziehende Gewalt/ordnende Gewalt. Wenn der vierstellige Prozess, der im Folgenden knapp beschrieben werden soll, zyklischer Natur sein soll, wieso kann dann die alte Unterscheidung gegenüber der neuen eine untergeordnete, zu vernachlässigende Rolle spielen? Die neue Unterscheidung soll dafür sorgen, dass das Resultat nicht schon von vornherein feststeht, so wie es die Wissenschaft oder die politischen Interessen es vorgeben (wollen), sondern dass es am Ende eines ordentlichen Verfahrens steht. Latour unterscheidet die Repräsentation, in der sich die Wirklichkeit durch einen Prozess abbildet, durch den sie hindurchgeführt wird wie durch fremdes Terrain (das Einhalten von Formen muss zur Verlangsamung führen), von der Repräsentation, die das Jetzt  durch einen feststehenden Bezug auf die Außenwelt festschreibt. Das Außen müsse erst einmal “in aller Form und nicht mehr heimlich hervorgebracht”(S.168) werden. Er fasst seine Sichtweise in der Maxime zusammen: “keine Realität ohne Repräsentation”(ebd.). Dafür gibt es die zwei Gewalten: die einbeziehende Gewalt, die im Oberhaus die Anwärter für das Kollektiv empfängt und ihnen dort jene zur Seite stellt, die dazu befragt werden müssen, ob die Anwärter zum Kollektiv kompatibel sind; die ordnende Gewalt, die im Unterhaus dann diese Kompatibilität diskutiert, eine Hierarchie des ganzen Kollektivs inkl. der Anwärter erstellt und den Prozess dadurch abschließt, dass sie ihn in Formen gießt, die von allen zu akzeptieren sind, weil sie nun den aktuellen Zustand des Kollektivs ausmachen, bzw. ,dass sie feststellt, dass das Kollektiv es war, dass ihn in die Form gegossen hat, aus der es nur durch den Prozess wieder herauskommt. Besser ging es nicht. Wenn man es gut gemacht hat, hat man es schlecht gemacht. Das Kollektiv ist immer missgebildet, durch den Prozess aber weniger als vorher. Anpassung an den Kosmos nicht durch Integration, nach der der frühere Zustand vergessen werden könnte, sondern durch permanente Anwesenheit des Eingeschlossenen und des Ausgeschlossenen(!). Das Außen ist nicht mehr inert(träge) und das Innen ist in der Form der einbeziehenden Gewalt und durch die Organisation des Prozesses alert(wachsam).

Dass er gerade die Bezeichnungen Oberhaus und Unterhaus für die zwei Kammern wählt, liegt wohl  daran, dass er gerne  Bedeutungsfelder aufbaut und ein Verweis auf die demokratischen Traditionen sein Theorieanliegen verdeutlichen soll. Das Ziel ist noch nicht, eine neuartige Form von politischem System aus den Angeln zu heben, sondern erst einmal seine Anlagen im Jetzt zu beschreiben, denn die intellektuellen Arbeiter können “niemals mehr erreichen, als anderen Intellektuellen, ihren Lesern, dabei zu helfen einzuholen, was durch den demos bereits Eingang in den Stand der Dinge gefunden hat”(S.280). ”Schon seit langem sind die Unterschiede innerhalb der Parteien wichtiger als das sie Vereinende”(S.283). Die meisten der neuen Spaltungen, Feinde und Fronten wären “schon da vor unseren Augen”(S.284). Es würde allerdings nicht schaden, die demokratische Tradition etwas konkreter zu nehmen und etwas verbindlicher, was die Begrifflichkeit angeht. Die beiden Ausdrücke “Oberhaus” und “Unterhaus” spielen für ihn “keine andere Rolle als die einer im Wind flatternden weißen Fahne, damit wir parlamentierenkönnen”(S.211). “Wir wissen wohl, dass es sich keineswegs um gewöhnliche Versammlungen handelt, die an geschlossenen und irgendwo konzentrierten Orten tagen, sondern eher um Einzugsgebiete, so vielfältig wie Ströme, so verstreut wie Flüsse und so zerzaust wie Bäche”(ebd.). Nimmt hier also doch die gestalterische Potenz der Natur die Themenabgrenzung vor? Nach Latour absolut nicht. Parlamentieren tut das Kollektiv über Dinge, was insofern eine Tautologie darstellt, als für Latour Dinge selber schon “partielle  Versammlungen”(S.274) sind, die Konfliktstoff bieten und eine Übereinstimmung notwendig machen. Auf dem Thing-Platz versammelten sich die freien Männer, um über etwas zu einer Entscheidung zu kommen. Latour orientiert sich hier auch an der Wortherkunft.

Der vierstellige Prozess beginnt mit der Perplexität. Wenn Wissenschaftler auf etwas Neues stoßen, sind sie erst einmal perplex. Denn das Neue führt ihnen plötzlich ihr Nicht-Wissen vor Augen. Die Gegenstände, um die es in dem vierstelligen Prozess geht, sind aber dezidiert Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen. Also Assoziationen zwischen dem, was vormals in der Höhle situiert war, und dem, was sich außerhalb befunden hat. Insofern hätte Latour schon hiermit den Gegensatz, der in den Spalten auftaucht, mit einem neuen Inhalt versehen, der aber in einem zyklischen Prozess zwei Mal von Spalte zu Spalte bewegt werden muss. Um überhaupt auf etwas Neues zu stoßen, sollte man nicht vorher vereinfachen. Die mit der Perplexität zusammenhängende Forderung ist negativischer Natur (“negativisch” meint, dass man etwas “nicht” tun solle oder dass etwas  abwesend ist; bisher  wurde dafür auf dieser Website einfach der Ausdruck ”negativ” verwendet) und wird von Latour folgendermaßen formuliert: “Vereinfache nicht die Anzahl der in die Diskussion einzubeziehenden Propositionen”(S.142). “Proposition” ist der erste entscheidende Begriff von Latour, mit dem der Umgang des Kollektivs mit seinen Mitgliedern (menschlichen und nicht-menschlichen Wesen) – also mit sich selbst – zivilisiert werden soll. Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen sind als Propositionen (Vorschläge) zu behandeln. Mit dem Perplexitäts-Begriff will Latour auf Defizite reagieren, die dem Tatsachen-Begriff seiner Meinung nach anhaften. So gäbe es ein ganzes Spektrum von Tatsachen (heiße,kalte,weiche, etc.)  und wenn die Propositionen später artikuliert werden sollen, so dürfe man die sukzessiven Etappen, die die Tatsachen bei ihrer Fabrikation durchlaufen haben und ihre unterschiedlichen Qualitäts- und Fertigungsgrade nicht unterschlagen. Wir befinden uns  noch in der Tatsachen-Spalte.

Mit dem ersten Schritt bewegen wir uns in der ersten Zeile (der einbeziehenden Gewalt)von der Tatsachen-Spalte in die Werte-Spalte. Wir haben also so wenig wie möglich Propositionen vernachlässigt und sie liegen auf dem Tisch ausgebreitet. Nun müssen diejenigen konsultiert werden, die zur Artikulation der Propositionen hinzugezogen werden. “Artikulation” ist der zweite entscheidende Begriff zum zivilisierenden Zwecke. Artikulation bedeutet, das die Mitglieder des Kollektivs  das Geschehen in ihm als aus Propositionen zusammengesetzt wahrnehmen und diese somit artikulieren (untereinander verbinden), weil Letzteren durch die (tatsächlichen?) Relationen, in denen sich Erstere befinden, ein konkreter Gehalt zukommt. Hier stellen sich mir einige Fragen. Nun können zwar nach Latour nicht-menschliche Wesen sprechen, wenn sie durch Stimmapparate (z.B. Instrumente im Labor) zum Sprechen gebracht werden und Assoziationen handeln einfach dadurch, dass durch ihre Anwesenheit im Kollektiv bestimmte Veränderungen eintreten, aber wenn für die Artikulation auch Eindrücke verarbeitet werden müssen, wie kann z.B. ein Stein wahrnehmen oder macht das für ihn auch ein Geologe oder jemand, der sein Eigenheim baut, und wäre das ein Fortschritt? Oder wird hier auch gefordert: “die Fantasie an die Macht!”, “nehme die Perspektive eines Steines ein!”? Das wäre zumindest in mimetischer Hinsicht ein Fortschritt.  Wenn man von so einem allgemein definierten Gegenstand wie den Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen ausgeht, wie kann man in einem kollektiv geregelten Prozess der Vielfalt und der Vielzahl der Assoziationen überhaupt Rechnung tragen? Ich halte diese Unterscheidung aber in theoretischer Hinsicht für äußerst wertvoll. Z.B. kann man mit ihr die unterschiedlichen Bezugsbereiche der  Komplexe und Simplexe verdeutlichen. In dem politischen Komplex geht es um das Miteinander (also auch das Für- und Gegeneinander) der menschlichen Wesen; in dem dazugehörigen choratischen Simplex (von griechisch “chora” = Land) geht es dagegen um das Miteinander (also ebenfalls wieder auch das Für- und Gegeneinander) der nicht-menschlichen Wesen. In dem Komplex der Ökonomie geht es darum, wie  nicht-menschliche Wesen menschlichen Wesen nutzen können  und in dem Simplex der Ökologie geht es um die Bedeutung der menschlichen Wesen für  die nicht-menschlichen Wesen. In dem Komplex der Kultur geht es um das nicht-menschliche Wesen für sich selbst und in dem Simplex der Natur um das menschliche Wesen für sich selbst. Von der segmentären Phase über die funktionale Phase bis zur virtuellen Phase wird erst deutlich, was ein menschliches Wesen sein kann und je mehr ein menschliches Wesen sein kann, desto mehr kann auch ein nicht-menschliches Wesen sein. Z.B. können auch erlernte Fertigkeiten bezüglich der Ökonomie als nicht-menschliche Wesen angesehen werden, da auch sie bestimmte Wirkungen zeitigen und keinesfalls menschliche Wesen darstellen, sondern von ihnen ausgeübt werden.  Es ist nur die Frage, ob die Theorie von Latour komplex genug ist, um dieser Unterscheidung die Geltung zu verschaffen, die sie verdient, oder ob er einen Bereich braucht, der als Deponie für all die Probleme der anderen Bereiche genutzt werden müsste.

An zentralen Gelenkstellen seiner Theorie drückt sich Latour gerne wage aus und verweist auf spätere Präzisierungen, die aber nur global (gar nicht?) durch das gegeben werden, was zum Konzept hinzukommend Genauigkeit zu bieten scheint; bei der folgenden zentralen Stelle z.B. die bürokratischen Meister der Form oder die Diplomaten, die durch die Aufnahme eines Außenverhältnisses zu anderen Kollektiven das Kollektiv erst über seinen Zustand und vielleicht das Wesen  seiner momentanen Einheit aufklären: in der politischen Ökologie versammeln, sprechen und entscheiden “gut artikulierte Wesen, Assoziationen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen, gut gebildete Propositionen”(S.121). Was gut artikuliert und gut gebildet bedeutet, soll später im Buch (Kap.5) präzisiert werden. Es wird zwar klar, dass gut gebildete Propositionen solche sind, die beim Übergang vom Vermischten zum Vermischteren (man schreitet also nicht in Richtung des Einfacheren, sondern in Richtung des Schwierigeren fort) diesen und somit den Zustand des Kollektivs an zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten für das Kollektiv nachvollziehbar machen und in transparenter Art und Weise so erst ermöglichen, aber dadurch wird nur wieder Transparenz auf Intransparenz bezogen. Ein Kollektiv ist jedenfalls um so artikulierter, je mehr es “spricht”, je feiner es ist, je mehr Beteiligte es umfasst und je mehr Möglichkeiten es besitzt, sich auf verschiedene Weise zusammenzusetzen (vgl. S.121).  Der Imperativ der Forderung nach Konsultation lautet: “Stelle sicher, dass die Anzahl der Stimmen, die an der Artikulation der Propositionen beteiligt sind, nicht willkürlich beschnitten wird”(S.145). Es geht jetzt also nicht mehr wie bei der Perplexität um “die Quantität der ihre Kandidatur anmeldenden neuen Wesen”(ebd.), sondern um “die Qualität und Bedeutung derer … , die gewissermaßen in der Jury sitzen, von der jene Wesen angenommen oder zurückgewiesen werden”(ebd.). Mit dem Konsultations-begriff reagiert Latour auf Defizite, die er beim Wert – Begriff ausmacht. Wertentscheidungen ergäben keinen Sinn, wenn sie nicht durch Tatsachen erst induziert werden. Also müsse man näher an die Tatsachen und den konkreten Fall heran und sich nicht mit der Berufung  auf allgemeine Werte begnügen oder nur nach den Grundlagen suchen. Damit später über die artikulierten Propositionen diskutiert und der experimentelle Charakter des Prozesses beibehalten werden kann, sollten sie statt Wesenheiten, über die ein Streit entbrennen kann bzw. die einen solchen losbrechen können, der eine Diskussion verhindert, revidierbare Gewohnheiten besitzen, zwischen denen eine Vermittlung möglich ist.

Der zweite Schritt kann dann nur innerhalb der Werte-Spalte selber stattfinden. Eine Bewegung, die von der einbeziehenden Gewalt (im System der Latourschen Gewaltenteilung: dem sogenannten Oberhaus) zur ordnenden Gewalt (instituiert im sogenannten Unterhaus in Latours Zweikammer-System) führt. Nach der Konsultation geht es ans Eingemachte: die Kompatibilität der neuen Wesen mit den alten muss diskutiert werden. “Diskutiere die Kompatibilität der neuen Propositionen mit denen, die bereits instituiert sind, um sie alle in ein und derselben  gemeinsamen Welt anzusiedeln, in der sie ihren legitimen Platz erhalten”(S.146). Die dritte Vokabel zum zivileren Zwecke wird somit (zumindest was den Kontext dieses Prozesses angeht) unter der Hand eingeführt. Es ist die Diskussion. Am Ende der Diskussion soll eine Art (Werte-)Hierarchie der neuen und der alten Wesen stehen. Z.B. kann das Kollektiv die individuelle Mobilität so hoch bewerten, dass es dafür Tausende von Verkehrstoten in Kauf nimmt. Die Position in der Hierarchie bestimmt sich nach der Wichtigkeit der Wesen. Eigentlich müsste hier Latour explizit von Assoziationen sprechen. Noch schärfer drückt er sich an anderer Stelle aus, wenn er davon spricht, dass die Freundlichkeit und die Feindlichkeit der Wesen gegenüber dem Kollektiv diskutiert wird. Mit dem Hierarchie-Begriff soll ein Schmuggel unmöglich gemacht werden, durch den Tatsachen als Werte (siehe Politik) ausgegeben werden können oder auch umgekehrt Werte als Tatsachen (siehe Wissenschaft).

Mit dem dritten Schritt innerhalb dieses zyklischen Prozesses kommen wir auch schon an seiner letzten Stelle an: der Institution. Es geht nun von der Werte-Spalte zur Tatsachen-Spalte zurück. Es muss nun ein Ende gefunden werden, bevor der Zyklus von neuem vom Kollektiv in experimenteller Absicht durchschritten wird: “Nachdem die Propositionen instituiert sind, bestreite nicht mehr ihre legitime Anwesenheit im kollektiven Leben”(S.143). Mit der “Institution” besitzen wir die vierte Vokabel zum zivileren Zwecke. Mit Hilfe des “Institutions”-Begriffes soll die Lücke des Tatsachen-Begriffes geschlossen werden, die sich daraus ergibt, dass er die Theoriearbeit unterschlägt, durch die die Daten erst Kohärenz erhalten. Er “soll die Rolle der Formgebung einschließen, die für die Stabilisierung der Tatsachen verantwortlich ist”(S.157). Dafür sorgen nicht nur gute Theorien, sondern auch Instrumente, Metrologie, Lebensformen etc. , also alles das, was in der Lage ist, etwas in die Wirklichkeit des Kollektivs aufzunehmen.

Meiner Ansicht nach würde der Zyklus mehr Sinn ergeben, wenn bei der dritten Stelle noch  konsequenter von den Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen die Rede gewesen wäre, wenn also klar wird, dass diese Gegenstand des Prozesses bleiben, sodass die Zivilisierung mit Hilfe der vier Vokabeln folgendermaßen konsequent ausgedrückt werden könnte: die Institution der Diskussion der Artikulationen der Propositionen (vgl. eine ähnliche Genitivkonstruktion in meiner Kritik des Baecker-Textes zur Kontingenzkultur der Weltgesellschaft). Damit wäre auch der Bezugspunkt des zweiten Schrittes ein anderer als bei Latour,  nach dem nicht die Artikulationen diskutiert werden, was rückbezüglicher ( und damit auch ziviler?) wäre, sondern die Wichtigkeit der Wesen diskutiert wird. Oder gibt es da sogar Zusammenhänge? Jedenfalls werden diese von Latour nicht klar genug herausgestellt.

Er fasst den vierstelligen  Prozess folgendermaßen zusammen: Jede neue Proposition durchläuft ihn. “Sie macht jene perplex, die sich zur Diskussion über sie versammeln und die Experimente einrichten, mittels derer man sich der Ernsthaftigkeit ihrer Anwärterschaft auf Existenz versichert; sie verlangt von all jenen berücksichtigt zu werden, deren Gewohnheiten sie verändern wird und die demnach ihrer Prüfungskommission angehören, d.h., konsultiert werden müssen; sollte die neue Proposition diese beiden Etappen überspringen, so kann sie sich nur dann in die Gegebenheiten der Welt einfügen, wenn sie Platz in einer bereits bestehenden Hierarchie findet; und wenn sie schließlich ihr legitimes Recht auf Existenz gewinnt, wird sie zu einer Institution, d.h. einer Wesenheit, und zum Bestandteil der unbestreitbaren Natur der guten gemeinsamen Welt” (S.164). Man beachte die begrifflichen Kühnheiten (“überspringen”) und dass am Ende dann doch eine unbestreitbare Natur (im Singular) stehen darf.

Latour betrachtet aber nicht nur die Wissenschaften und die Politik, die er auf ihre Know-Hows hin abklopft, die sie zum Funktionieren des vierstelligen Prozesses beitragen können, sondern auch die Ökonomie und die Moral. Wobei man sich fragt, inwiefern die Moral auf die gleiche Ebene gestellt werden kann. Denn die gesellschaftliche, säkulare Institutionalisierung der anderen drei Bereiche ist doch offensichtlicher. Außerdem ist zu betrachten, was fehlt. Denn das Fehlende ist in einer Theorie  genauso wichtig wie das Vorhandene. Wieso wird nicht gleichermaßen auf die Know-Hows der Kunst und  des Rechts eingegangen? Wenn man genauer hinschaut, werden sie zwar nicht auf der gleichen Ebene behandelt, sind aber im Gesamtkonzept vorhanden. Im Fall der Kunst implizit, weil das ganze Vorgehen eines Künstlers ähnlich dem des Ablaufes des vierstelligen Prozesses erfolgt. Die Werkzeuge, Ausdrucksmittel und Motive geben ihm Vorschläge. Auf sein Ziel hin muss er reflektieren, inwiefern sie sich anbieten, etwas beizutragen. Dann müssen sie in eine Ordnung gebracht werden. Etwas wird in den Vordergrund gestellt, nimmt vielleicht den größten Platz ein, anderes wird nur am Rande hinzugefügt etc.  . Und dann muss dem Ganzen noch der letzte Schliff gegeben werden, das Bild dann auch eingerahmt werden, bevor es schließlich vielleicht sogar im Museum landet. Doch ziemlich Kunst-like, das Konzept von Latour, oder? Das Recht ist auch insofern in  Latours Theorieanlage vertreten, als sie zum Ziel hat, das, was bisher verborgen in geheimen Zirkeln der Politik oder in den Laboren unbeachtet von der Öffentlichkeit geschah, zum Bestandteil eines ordentlichen, rechtmäßigen Prozesses zu machen, der von Anfang bis zum Ende für die Öffentlichkeit nicht nur transparent ist, sondern auch kollektiv geregelt ist, das heißt: von allen Mitglieder zu akzeptieren, weil durch ihre Teilnahme legitimiert. Latour selber schreibt in den Anmerkungen, dass er nicht explizit auf das Recht und die Kunst eingeht, weil sie nicht vom Modernismus mit gleicher Intensität in den Dienst genommen worden sind (vgl. S. 339); was sehr zu bezweifeln ist.

Darauf, dass er gerade die Politik und die Wissenschaften miteinander paaren will, mache ich mir meinen eigenen Reim. Es hängt wohl praktisch zuerst damit zusammen, dass er als (Wissenschafts-)Soziologe die politische Praxis theoretisch befruchten will, aber auch theoretisch damit, dass Wissenschaft und Politik in der Ethik tatsächlich in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen, was für denjenigen, der theoretisch arbeitet und die herrschende Politik den Verhältnissen hinterhinken sieht, besonders deutlich wird. Latour strebt ein kooperatives Verhältnis von Politik und Wissenschaften an (wie es z.B. nach ihm schon teilweise beim  Kyoto-Protokoll zu beobachten war) und erarbeitet eine Theorie, wie das zu funktionieren hat und dass es nur funktioniert, wenn auch andere Bereiche kooperativ einbezogen werden. In meiner Theorie der ethischen Disjunktion zwischen Komplexität und Simplexität dagegen sind Politik und Wissenschaft phasenmäßig aufeinander bezogen und ihr Verhältnis kann im engeren Sinne nicht als ein Kooperationsverhältnis beschrieben werden. In der segmentären Phase der Weltgesellschaft kommt es bezüglich der Welt zur ethischen Disjunktion zwischen Politik(Komplex) und Choratik(Simplex) und bezüglich des Selbsts zur ethischen Disjunktion zwischen Wissenschaft(System) und (vor allem biologischer) Erbschaft(Diastem). In der funktionalen Phase sind dann die Wirtschaft und die Kunst aufeinander bezogen und in der virtuellen die Kultur und das Recht. Diese Bezüge betreffen jeweils die gleiche Kultur, z.B. bezüglich der segmentären Phase der Weltgesellschaft Europa. Indien hat sich während der Soziogenese (Wehen der Logik) in seiner Weltaneignung auf die Wissenschaft spezialisiert und die ethische Disjunktion zwischen Wissenschaft und Erbschaft findet hier auf die Welt bezogen statt, weswegen die indische Kultur in der funktionalen Phase der Weltgesellschaft die Quelle der Weltwissenschaft sein wird. Dieser Text, der gerade über diese Verhältnisse aufklären will, kann als ein Beispiel für das Verhältnis von (Sozial-)Wissenschaft und Politik angesehen werden. Allein kann ich keine Politik machen, Wissenschaft betreiben aber schon und sie auch – das Internet macht es möglich – publizieren und mit dieser expliziten Wendung an die Welt verfolge ich vielleicht auch das Interesse, der politischen Dummheit, Unwahrhaftigkeit und Bosheit Einhalt zu gebieten, wogegen aber die Interessen der politischen Dummheit etc. stehen.

Der Prozess innerhalb des Latourschen Kollektivs, der mit einer Außenbeziehung beginnt und dessen Ende vorläufig ist, soll seinen experimentellen Charakter nicht verleugnen. Nie kann man vor den Propositionen sicher sein, die man ausgeschlossen hat. Sie werden auch beim nächsten Mal wieder an die Tore des Kollektivs klopfen. Latour drückt sich  paradox aus: man ist niemals mit seinen Feinden (den abgewiesenen Anwärtern) quitt, die morgen schon Verbündete sein können (vgl. S.261). Konsequenter müsste es heißen: Freunde sein können. Inwiefern ist die Unterscheidung Freund/Feind eine kollektivinterne Unterscheidung? Meiner Ansicht nach eine interessante Frage bezüglich  Latours Ansatz. Er meint sogar, dass erst von Einheit gesprochen werden kann, wenn für alle  Ausgeschlossenen nicht nur ein Platz vorgesehen wurde, sondern dieser Platz müsste von ihnen auch selber und ihren eigenen Kategorien gemäß entworfen werden (vgl. S.265). Jedenfalls befindet sich das Kollektiv in ständiger Alarmbereitschaft (Erregung?) gegenüber dem, was es da draußen erwartet und seine Sensibilität macht sein Zivilitätspotential aus. Wenn der kollektivinterne Prozess kunstmäßig gestaltet ist und die Außenbeziehung sogar ein Element Angst enthalten würde (soweit geht Latour nicht, obwohl das Unterhaus bei der Ausschließung – also nur prozessintern moralistisch – davor “zittert”(S.227), eine Ungerechtigkeit zu begehen), dann läge seine Theorie schon nahe bei meinem Konzept der ethischen Disjunktion von Komplexität und Simplexität, doch da er vom Gegensatz Politik und Natur ausgeht, den er explizit verwirft, aber die Tatsachen/Werte-Unterscheidung abwandelt und (in strukturierender Hinsicht?)  beibehält, präsentiert er lediglich seine Herangehensweise für ein Problem, das sich in aller Radikalität für ihn gar nicht stellt, denn sonst hätte er keine Möglichkeit, es zu umgehen, indem er ein Kollektiv in Anschlag bringt, das dieses Problem niemals für ihn lösen kann. Er präsentiert aber zumindest eine ambitionierte Teillösung. Er ist selber bereit zuzugeben, dass seine Theorie wohl am ehesten den Bedingungen der französischen Gesellschaft Rechnung trägt. Wie anders wäre es zu erklären, dass nur die Politik beim ihm im Feld des Sozialen operiert und es definiert? Ein Gedanke, der Menschen in einer zentralistisch aufgebauten Gesellschaft anscheinend eher kommt als jenen, die in einer politisch mehr föderal durchstrukturierten heimisch geworden sind. Er beschreibt die alte Situation und die Wendung zum Positiven mit einer gewissen fantastischen Naivität: “Im alten Regime hatte sich die Wissenschaft mit der Natur zu beschäftigen, die Politik mit dem Sozialen, die Moral mit den moralischen Grundlagen, die Ökonomie mit der ökonomischen Basis, die Administration mit dem Staat. Wie die Feen im Märchen, die über die vier Wiegen des neuen Kollektivs gebeugt sind, bringt nun jeder Beruf die für ihn charakteristischen Gaben ein”(S.179).

Im Folgenden sollen einige der Know-Hows, die die vier Bereiche Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Moral  zu den vier Prozess-Stellen beizutragen haben, noch kürzer angerissen werden als es eh schon bei Latour geschieht. Zu diesen vier Prozess-Stellen kommen noch zwei Aufgaben hinzu. Die fünfte Aufgabe bezieht sich auf die Trennung zwischen der einbeziehenden und der ordnenden Gewalt bzw. auf die Aufrechterhaltung einer Beziehung zwischen diesen mittels eines “Shuttle”-Systems. Die Administratoren werden mit dieser Aufgabe der Gewaltenteilung betraut (vgl. S.156), stellen ihre Know-Hows aber genauso den vier Prozess-Stellen zur Verfügung, wie die anderen Bereiche ihre Know-Hows dieser Aufgabe der Gewaltenteilung. Auf die hinsichtlich der Erfolgsaussichten unklare Aufgabenstellung der Administration werde ich später noch näher eingehen. Die sechste Aufgabe besteht in der Szenarisierung der Gesamtheit des Kollektivs in einem vereinheitlichten Ganzen (vgl. S.179).  Generell haben die Bereiche/Berufsstände zu allen 6 Aufgaben etwas beizutragen. Es geht darum, dass sich Tugenden und nicht Laster ergänzen sollen.

Die Politik zum Beispiel kann bezüglich der Konsultation (2.Prozess-Stelle) Jury-Mitglieder zur Auswahl der Propositionen mobilisieren, oder wie Latour sich ausdrückt “Abstimmende …  erzeugen”(S.188). Bezüglich der Hierarchisierung(3.) bringt sie die Fähigkeit zur Kompromissbildung mit. Die Institutionalisierung befördert sie, indem sie auf eine Entscheidung drängt und es versteht, sich Feinde zu machen(vgl. S.190). Auch die negativ angesehenen Fähigkeiten werden also auch bei Latour gewürdigt. Everybody’s Rindviecher werden nicht gebraucht. Aber vielleicht sind Nobody’s Rindviecher auch einfach nur Arschlöcher? Diese Möglichkeit gibt es natürlich auch. Zur Lösung der fünften Aufgabe der Gewaltenteilung zwischen einbeziehender und ordnender Gewalt kann sie die klassische Unterscheidung zwischen Beratung und Entscheidung beisteuern.

Die Wissenschaft kann für die 1. Prozess-Stelle der Perplexität ihre Instrumente und ihre Labore bereitstellen und Gesichtspunkte verschieben oder Arrangements künstlich verändern, sodass auch Ungewohntes und Neues  in den Blick geraten kann. Bezüglich der Szenarisierung des Kollektivs kann sie  aus einer in ihre einfachste Form gebrachten Erzählung eine provisorische Hülle des Kollektivs machen (vgl. S.185). So eine Erzählung wäre z.B., dass am Anfang des Universums der Urknall stand.

Bevor Latour auf die Know-Hows eingeht, die die Ökonomie einbringen kann, geht er auch mit ihr äußerst kritisch um. Sie würde zur  grauen, kalten Natur, die die Höhlenbewohner von den Wissenschaftlern präsentiert bekommen, und zur warmen, grünen Natur der Ökologiedenker, die alles nur noch falscher machen, weil sie sich noch mehr an der Natur festkrallen, nur noch eine dritte falsche Natur hinzufügen: die rote, blutige Natur. In der Ökonomie herrsche “das Dschungelgesetz einer animalisch vorgestellten Natur”(S.174), das Prinzip des selbstregulierten Marktes, hinter dem sich die Ökonomen verschanzen können, wenn von ihnen eine Beteiligung an öffentlichen Diskussionen gewünscht wird. Sie fühle sich dann nur fähig, Deskriptionen zu liefern und wenn diese gewünscht sind, behauptet sie, dass sie nur mit Präskriptionen dienen kann. Nach Latour bekommt man eher einen Zugang zur Ökonomie, wenn man sie durch Rechen- und Profitzentren und nicht durch das ökonomische Kalkül strukturiert sieht. Doch wenn Latour dann die Beiträge der Ökonomie zum Kollektiv beschreibt, fragt man sich, wo der große Unterschied ist. Er sagt zwar immer, dass man aus den Giften Medikamente machen muss. Aber was ist, wenn der einzige Unterschied im Fluss des Latourschen Textes liegt, aus dem man anders heraussteigt als man in ihn hineingestiegen ist? Die Gifte der gesellschaftlichen Bereiche werden zu Medikamenten, wenn sie zu jeweils einer bestimmten Stelle des Prozesses beigesteuert werden. Dann greifen die Feen in ihre gabengefüllten Körbe, wie Latour sich ausdrückt. Hoffentlich ist die Großmutter nicht der große, böse Wolf! Aber solange man es sich vorstellen kann und Latour diese Hoffnung hat! Die Latoursche Theorietechnik könnte man dann vielleicht als Fusion des guten Leserwillens (seine Dispositionen zur Entwicklung Know-How- spezifischer Fähigkeiten inbegriffen) mit den guten Gaben der (noch) gesellschaftlich instituierten Intelligenz bezeichnen. Verglichen mit Luhmanns Entparadoxierungs- Ansatz eine eher plurale, an zusammenhängenden Vielheiten orientierte Herangehensweise.  Die Ökonomie könne zur 2.Prozess-Stelle der Konsultation eigene Jurys beisteuern: Konsumenten, Profiteure etc. . Bezüglich der Perplexität (1.) können mit Hilfe der Ökonomie noch bislang unbekannte Kombinationen von nicht-menschlichen Wesen (“Gütern”) und menschlichen Wesen (“Personen”) vorgestellt werden.

Die Moral trägt zur Perplexität die Suche nach den Ausgeschlossenen bei und erhöht den Sensibilitätsgrad des Kollektivs. Für die 3. Aufgabe der Hierarchisierung sei von der Moral am meisten zu erwarten. Sie könne  die Anforderungen einer vereinheitlichten Rangfolge angeben, wenn alle Entitäten in einer einzigen homogenen Hierarchie zu ordnen sind. Dann wäre nur zu hoffen, dass die menschengemachte Hierarchie  besser als jene nach Natur-Begriffen ist. Aber wenn alle mitmachen, kann es für keinen falsch sein!?

Mit diesen beispielhaften Nennungen von Tugenden, die die vier gesellschaftlichen Bereiche bzw. die für sie verantwortlichen Berufsstände (hoffentlich können die Moralisten von der Moral leben!) einbringen können, will ich es bewenden lassen. Eine noch klarere Trennung z.B. zwischen den Ökonomen in Institutionen und den wirtschaftlichen Akteuren und eine Auffächerung der Letzteren wäre sicherlich gewinnbringend.

Wie schon oben angedeutet, fehlen noch zwei Bereiche, die ihre Know-Hows bzw. ihre Herangehensweisen beisteuern müssen, damit das Kollektiv ein funktionierendes Ganzes sein kann. Ohne diese würde  die Überführung der Latourschen theoretischen Konzepte in praxisrelevante Konzeptualisierungen auch schwer fallen. Allerdings müsste der eine Bereich umgedeutet werden: die Administration mit ihren bürokratischen Meistern der Form. Man könnte  – wenn man wollte – die Latourschen Konzepte auch so umsetzen, dass die planwirtschaftlichen Bürokratien nichts dagegen waren. Aber da man so vielen Singularitäten bürokratisch gar nicht Rechnung tragen kann, ist das unmöglich. Die Pluralität der Ausgangslage täuscht, wenn Prozeduren wirksam werden. Sie schaffen ihre eigene Realität, die erst einmal akzeptiert werden muss. Verglichen mit der Bedeutung, die Latour der Öffentlichkeit mit seiner politischen Ökologie geben will, ist die prominente Stelle, die er der Bürokratie im öffentlichen Leben einräumt, kaum zu glauben und korrespondiert wohl mit der eminenten Bedeutung, die die Wissenschaft für das öffentliche Leben seiner Meinung nach besitzt. Die Hälfte des öffentlichen Lebens würde in den Laboren stattfinden (vgl. S.101) und durch die Administration würde das öffentliche Leben seine Kontinuität erhalten:”Wie allgemein bekannt, stellt die Administration die Kontinuität des öffentlichen Lebens sicher”(S.257). Die Verbindung zwischen den Bereichen ist das Experiment: das Experiment im Labor und das kollektive Experiment, zu dem die Bürokratie die Versuchsprotokolle anfertigt. Eine doch etwas naive Vorstellung! Die Bürokratie kann gerade das Mittel sein, um das Experiment zu ersticken! So eine ärmliche, absolut eindimensionale Sicht des öffentlichen Lebens, für dessen Kontinuität nur die Bürokratie sorgt, kann noch nicht einmal durch die Prägung durch ein zentralistisches politisches System erklärt werden, sondern Latour überträgt wohl einfach sein Vertrauen, dass unter kontrollierten Laborbedingungen ein nachzuvollziehender Output herauskommt, auf das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte. Wenn es darauf ankommt, gibt sich Latour ein bisschen zu wenig Mühe. Das erkennt man schon daran, dass er den Gaben, die die Administration beisteuert, noch eine Eigenschaft hinzufügen muss, ohne die diese den Gabencharakter nicht hätten: Gewissenhaftigkeit, Sorgsamkeit, Hartnäckigkeit, Aufmerksamkeit. Durch gewissenhafte Datensammlung würde sie die Außensensibilität erhöhen (Perplexität). Ohne sorgsames Festhalten des Parteien-Engagements könne man die Rangordnungen nicht durchkämmen.  Ohne hartnäckiges Überprüfen der Beteiligungsberechtigungen könne man nicht die gute Form der Konsultation gewährleisten (vgl. S.258). Warum überhaupt die Bürokratie, wenn jene Eigenschaften vorhanden sind, um die Aufgabenteilung in den Griff zu bekommen? Warum nicht Rhizomatie (von griechisch “rhizoma” = Wurzel) statt Bürokratie? Die Rhizomatie kümmert sich um das Verhältnis von Verankerung und Gedeihen. Kein prächtiger Baum, der sich nicht durch ein ausgedehntes Wurzelwerk im Boden hält. Unten die Gegebenheit: der nährstoffhaltige Boden; oben die Gelegenheit: das Licht und die Kohlendioxid-Zufuhr. Wir sehen immer nur die Hälfte. Die Wahrheit liegt im Finsteren. Die Hälfte, die wir sehen, ist gerade die erbauliche. Um die andere zu Gesicht zu bekommen, müssen wir graben oder stark genug sein, um den Baum mitsamt seiner Wurzeln auszureißen. In der Rhizomatie geht es also um die Schwierigkeit der “Repräsentation”, der “Vergegenwärtigung”. Wer Repräsentation mit “Vertretung” übersetzt, benutzt schon eine abgeleitete Bedeutung.

Nun ist die Aufgabe der Administration immer noch nicht genau geklärt. Im alten Regime sollte sie sich mit dem Staat beschäftigen. In der politischen Ökologie kommt die Gewalt der Verlaufskontrolle, die “unentwirrbar verbunden mit der Frage des Staates”(S.253) ist, nicht ohne sie aus. Diese Gewalt der Verlaufskontrolle soll bei Latour gleichzeitig die dritte Gewalt neben der einbeziehenden und der ordnenden  und auch die siebte Aufgabe neben denen der vier Prozess-Stellen, der Gewaltenteilung und der Szenarisierung sein. Zu dieser siebten Aufgabe leisten auch die Bereiche bzw. Berufsstände inkl. der Administratoren ihre Beiträge. Gleichzeitig soll aber der Staat von der Politik, den Wissenschaften und der Ökonomie befreit werden, was insofern konsequent ist, als ja die Administration die Berufsstände koordinieren soll und eigentlich besonders zur Erfüllung der fünften Aufgabe der Trennung der Gewalten vorgesehen war. Versucht Latour mit der dritten Gewalt, die zugleich die siebte Aufgabe darstellen soll, die Lücken zu stopfen, die sein 4+2 Aufgaben-System und sein 4+2 Bereiche/Berufsstände-System offenbaren? Mit Hilfe seiner politischen Ökologie will er gerade das verhindern, was er in der Moderne unvermeidlich veranlagt sieht: die eigene Rationalität für absolut zu halten und dann, wenn sie sich zu Ende entfaltet hat, sich von ihrem Strudel in die Tiefe reißen zu lassen, sodass es immer wieder zu katastrophenmäßigen Krisen kommen muss. Vereinfacht könnte man Latours Position als entgegengestetzt zu jener begreifen, die auch Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes einnimmt: dass es immer mal wieder Krieg geben muss, um Blut in den Organismus der Gemeinschaft zu pumpen. Die Krise ist in Latours Theorie gerade da vorhanden, wo nichts ist: zwischen der einbeziehenden und der ordnenden Gewalt. Und die Administration sorgt dafür, dass es dieses Nichts gibt und dafür, weil sie ein Shuttle-System zur Überbrückung dieses Nichts sein soll, dass es dieses Nichts nicht gibt. Auch Latours Theorie kommt also nicht ohne Entparadoxierungs-Ansatz aus, den er in seinem Administrations-Konzept rudimentär zu konkretisieren versucht. Der ehemalige Verwaltungsbeamte Luhmann hatte dieses Problem vielleicht schon früher schärfer gesehen und hat es weniger rudimentär, aber mindestens ebensowenig zurückgebunden an die gesellschaftliche Realität angegangen.

Der Staat (mit dieser zweidimensionalen Darstellung sind aber eigentlich nur jeweils die drei Hauptaufgaben des Staates erfassbar, die zusammen mit der Grundfläche eine Tetraeder-Darstellung ergeben)

Bei den mageren Angaben zu der Gewalt der Verlaufskontrolle, die zum großen Teil  negativisch bestimmt wird, kann man von einer Staatstheorie bei Latour nicht sprechen: man könne sie auch als ”Regierungsgewalt” bezeichnen, “wenn denn unter Regieren der Verzicht auf jede Beherrschung verstanden wird”(S.252). Die dritte Gewalt besitzt nicht die Attribute der Macht, “sondern der Schwäche”(ebd.). Sie soll dafür sorgen, dass sich die Bereiche/Berufsstände nicht mit einem Zyklus-Durchlauf begnügen. Sie ist der Lernkurve verpflichtet – dass das Kollektiv aus dem Experiment lernt, dass man gute Gründe hatte, Anwärter abzulehnen und sie beim nächsten Mal vielleicht aufnehmen kann, wenn sich die Bedingungen geändert haben.  Im positivischen Sinne bedeutet „Lernkurve“, dass die maximal verkraftbare Anzahl an  Anwärtern aufgenommen werden soll, durch die  das Potential des Kollektivs sich verschieden zusammensetzen zu können erhöht wird. Dafür ist keine Politikwissenschaft nötig, die gerade dadurch, dass sie die Bedingungen eines Experiments lehrt, weitere verhindert, sondern – Latour  gibt sich bescheiden – Wissenschaftspolitik, “durch die sich die relative Fruchtbarkeit der kollektiven Experimente beurteilen lässt”(S.254). Latour liefert also nur Andeutungen und weiß das. Und wenn er schreibt, dass der Staat den Vergleich “zwischen dem Stand der Dinge n  und n+1″(S.260) anstellt, so pflichte ich ihm bei: ja, genau das ist der Staat in seiner reinen Bedeutung, aber er kann es auch in seiner negativen Bedeutung sein, denn es wird nur die Spitze der Pyramide betrachtet, ohne die ganze Arbeit zu berücksichtigen, die für den Staat, im Staate und duch den Staat geleistet wurde. Wie soll dann der Vergleich positiv ausfallen? In der obigen Darstellung des Staates dagegen müssen die Ideale verwirklicht werden und die Realität vervollkommnet werden. Erst dann kann es zu einem Vergleich kommen, bei dem ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt wird. Dabei ist der Staat das für die Politik, was der Markt für die Wirtschaft ist. Die Verwaltung ist beim oben abgebildeten Modell gerade die kürzeste Verbindung von Spitze und Basis(-Mitte). Zur Basis hin wird der Bürger durch die Akte zur Verwaltungsnummer und zur Spitze hin wird die Nummer durch die Fakten zum (Verwaltungs-) Bürger.

Aber eine politische Theorie muss auch eine Auffassung vom Rat haben, die ihn vom Staat gerade dadurch abhebt, dass die Begriffspaare Positivität/Negativität und Idealität/Realität genau komplementär mit anderer Zuordnung gebraucht werden, sodass sich Positivität und Negativität nicht als Stoßrichtungen ergänzen, sondern bezüglich des Resultates die Waage halten. Auch Latour bräuchte neben einer Staatstheorie auch eine des Rates, denn bei ihm soll ja eine Hierarchie nach einer Diskussion festgelegt werden. Doch im kunstmäßig gestalteten Prozess sind auch die Prozess-Stellen so prozesshaft entworfen, dass in ihnen der Unterschied zwischen Struktur und Prozess genauso verwischt wird wie die nicht-menschlichen und menschlichen Wesen ihre Eigenschaften austauschen. Die Beziehung zwischen Negativität bzw. Positivität und einer negativen bzw. positiven Beurteilung von etwas gestaltet sich in meiner Begrifflichkeit derart, dass etwas negativ ist, wenn die Negativität ihre Arbeit der Aufhebung und Einebnung des Gegenstandes nicht geleistet hat, und etwas ist positiv, wenn die Positivität ihre Arbeit der Aufstellung und Ausrichtung des Gegenstandes  geleistet hat. Hier treffen wir auf eine ähnliche Konstruktion wie weiter unten bei der Beziehung zwischen Sagen und Schweigen und Diplomatie und Rhizomatie. Die Beziehung zwischen Negativität/Positivität  und dem Schweigen/Sagen kann man mit Hilfe von dem, was der Sophist Gorgias (gest. 380 v. Chr.) über das Nichtseiende sagte, veranschaulichen: es existiert nichts (Neutralität), und wenn etwas existiert (Sagen bzw. erfüllte Positivität), kann man es nicht erkennen (Nicht-Sagen bzw. geleerte Negativität), und wenn man es erkennen kann (Nicht-Schweigen bzw. geleerte Positivität), kann man es nicht mitteilen (Schweigen bzw. erfüllte Negativität).

Die Gewalt der Verlaufskontrolle  ist eigenartigerweise nach innen gerichtet, denn sie verteidigt die Zivilisation dadurch, dass sie die Bereiche/Berufsstände dazu anhält, ihre Beiträge zum kollektiven Prozess zu entrichten. Gleichzeitig muss der Staat aber auch fähig sein, nach außen hin Krieg zu führen: gegen die Feinde, die ja nur jene sind, die man nicht aufnehmen konnte. Durch den Prozess ist das Kollektiv fähig, diese Feinde als Zivilisierte zu betrachten und ist nur deshalb selber zivilisiert. Welcher Art ist dann aber der Krieg, der in diesem Fall nicht gegen andere Kollektive, sondern auch gegen die abgewiesenen Anwärter geführt werden  müsste? Ist dieser Krieg das Kollektiv selber? So nach dem Motto der Splatterheads (australische Punk-Band): nicht der Underdog im Kampf, sondern der Kampf im Underdog stelle den wahren Fortschritt dar? Schon der allgemeine Gegenstand der Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen lässt die Vermutung zu, dass hier auf eine politische Theorie zugunsten einer Kulturtheorie verzichtet wird. Außerdem scheint mir hier eine genomische Sichtweise beim Vergleich zwischen Vergangenheit und Zukunft anzuklingen: die Anwärter auf die Mitgliedschaft im Kollektiv sind  wie die Mutationen und Rekombinationen, die aufzunehmen bzw. zu realisieren wären, wenn ihre Aufnahme bzw. Realisation zu einer größeren Kombinationsbandbreite/-spannweite der Genome der Individuen auf der nächsten Stufe  führt usw. . Wenn dabei jeweils neue Information zur Verfügung gestellt wird, heißt das: alles wird verschiedener.

Der andere wesentliche Bereich bzw. Berufsstand, der noch hinzukommen muss, ist die Diplomatie (von griechisch “diploma” = Urkunde). Bei der Bedeutung und Funktion der Diplomatie kann ich Latour schon eher folgen. Sie ist nötig, weil es außerhalb des Kollektivs nicht nur Bewerber gibt, die um Aufnahme bitten, sondern auch andere Kollektive. Indem der “ökologische Diplomat” (S.267) mit anderen Kollektiven in Verbindung tritt, macht er das Kollektiv mit sich selbst vertraut, denn ohne ihn wäre die Einheit des Kollektivs diesem nur durch sich selber, also nur einseitig bewusst und die soziale Höhle würde zur kollektiven Hölle. Dafür muss der Diplomat der Ausgangslage, die ihm das Kollektiv unterbreitet (inkl. der Adäquanz aller von ihm zur Verfügung gestellten Repräsentationen) misstrauen.  Er sagt zu seinem eigenen Kollektiv: “Im Grunde genommen wisst auch ihr nicht, was euch wichtig ist, bevor ich nicht in Verhandlungen getreten bin”(S.270).  Latour benennt ebenfalls die Eigenschaften des Diplomaten, aber nur negativisch in Absetzung von denen der anderen Bereiche und nicht bezogen auf die Prozess-Stellen, sondern auf die Wiedereinführung des ganzen Unterschiedes, den das Außen ausmacht (vgl. S.266), in das Kollektiv. Der Diplomat hat  z.B. weniger verfahrensorientiert als der Administrator und weniger willensstark als der Politiker zu sein (vgl. S.271). Vielleicht orientiert sich Latour hier konzeptionell ein wenig zu sehr an der Realität. Aber es wird doch deutlich, dass der Diplomat nicht durch die Einbindung in den kollektivinternen Prozess belastet ist und diese Freiheitsgrade in jeder Situation in die Beweglichkeit des Kollektivs ummünzen können muss.

Die Diplomatie, die auf das Außen des Kollektivs bezogen ist, und die Administration, deren Wirken auf interne Differenzen bezogen ist, bilden  bei Latour ein ungleiches Paar. Aber leben sie nicht getrennt voneinander? Wird ihre Ehe überhaupt vollzogen? Der/die Diplomat(in) ist immer auf Reisen und der/die Administrator(in) vergräbt sich hinter Aktenbergen. Wo ist der konkrete gemeinsame Bezugspunkt, inwiefern sind die beiden kompatibel? Müsste sich der/die Administrator(in) nicht um alle internen Differenzen kümmern, um eine gute Partie für den/die Diplomaten(in) abzugeben? Ich möchte dagegen mit dem Paar Diplomatie/Rhizomatie das konkrete Problem der Repräsentation angehen, das ja auch für Latour im Vordergrund steht, der sich jedoch auch nur hinter Versuchsprotokollen versteckt. Wenn es aber um Urkunden geht, mit denen ja der Diplomat zu tun hat, deren Formulierungen er in Verhandlungen aushandeln muss, müssten nun auch durch ökologische Diplomaten wie Latour die Begrifflichkeiten etwas verbindlicher gehandhabt werden. Bei der Rhizomatie geht es um eine feste Verbindung zwischen den Wurzeln im Tiefengrund und dem Blätterwerk an der Oberfläche, um den Stamm, der beides ist, weil die Wurzeln ihn aufrecht halten und weil durch ihn die Blätter mit Wasser und Nährstoffen versorgt werden, und beides nicht ist. Bei der Diplomatie geht es dagegen um eine lose (bzw. gar keine) Verbindung zwischen Form und Text. Hier gibt es kein in der Schöpfung stehendes zusammenhängendes Ganzes, sondern die Verhandlungspartner müssen zusammenkommen, um sich auf einen Text zu einigen. Nichts steht vorher fest. Ist der Text fertig, so bereitet die Vergegenwärtigung überhaupt keine Schwierigkeiten, sofern der Text klar formuliert ist (ansonsten wäre die Urkunde sowieso wertlos). Diplomatie und Rhizomatie ergänzen sich großartig (vervollständigen sich jedoch nicht, denn für die Herstellung des Urkundenpapiers werden Bäume gefällt und nicht auch umgekehrt). Die Urkunde gibt es nur, wenn die Unterscheidung Oberfläche/Tiefengrund in ihr aufgehoben ist. Und der Baum besitzt nur Umrisse und Gestalt (Form), weil sich in seinem Innern Zellgewebe (Text) befindet, weswegen auch in ihm die Unterscheidung Form/Text aufgehoben ist.

Durch die vorgenommenen Veränderungen werden auch der vierstellige Prozess und die Gewaltenteilung umdeutbar. Die Gewaltenteilung zwischen ordnender und einbeziehender Gewalt wird durch das Verhältnis von “sagen” und “schweigen” ersetzt und es gibt nicht nur einen vierstelligen Prozess, sondern zwei vierstellige Prozesse. Durch den einen wird Komplexität produziert und durch den anderen wird Komplexität reduziert. Der Begriff der Komplexitätsreduktion soll hier nicht so stumpf gebraucht werden wie bei Luhmann, sondern ist eben auf die Produktion von Komplexität bezogen. Wir gehen also hier nicht von der Grundannahme aus, dass die Umweltkomplexität größer ist als die Systemkomplexität; ganz einfach, weil wir gar nicht wissen, was das System oder die Umwelt überhauptsind. Also macht auch die Behauptung von Latour, dass man nicht wissen kann, was die Umwelt vermag, keinen Sinn. Vielmehr kann nur das System selber wissen, was seine Umwelt ist; weil es weiß, denn die Umwelt ist einfach das Bild, das es von sich selber macht und nach außen projiziert. Es gibt die Umwelt von uns nur deshalb, weil wir über sie sprechen und so unser Wissen teilen. Beide vierstelligen Prozesse gehören auf die Ebene des Schweigens (bei Latour: des Einbeziehens), die aber mit der Ebene des Sagens (bei Latour: des Ordnens) verbunden ist, was die Rhizomatie anbelangt, nur lose (bzw. überhaupt nicht) jedoch, was die Diplomatie anbelangt. Rhizomatie und Diplomatie gehören beide auf die Ebene des Sagens. Die Verbindung zwischen Sagen und Schweigen ist von der gleichen Festigkeit wie jene, durch die die Rhizomatie (fest durch den Stamm) und die Diplomatie  (lose bzw. es gibt gar keine Verbindung) überhaupt erst definiert werden. Es wird jetzt also klar, dass das 4+2-System von Latour durch ein 2×4-System zu ersetzen ist. “2×4″ bedeutet dabei nicht nur, dass es zwei vierstellige Prozesse gibt, sondern die “2″ erhält durch die Rhizomatie und die Diplomatie eine explizite Bedeutung. Das Multiplikations-Symbol trennt das Sagen von dem  Schweigen und verbindet gleichzeitig beide miteinander. Wir haben also in diesem Kontext keine Verwendung für einen Entparadoxierungsansatz, weil das Paradox in der Rhizomatie schon durch die Existenz des Stammes gelöst ist und in der Diplomatie sich erst gar nicht als Problem stellt.

Die Diplomatie mit ihrer Unterscheidung Form/Text ist auf den vierstelligen Prozess der Komplexitätsproduktion, die Rhizomatie mit ihrer Unterscheidung Oberfläche/Tiefengrund auf den vierstelligen Prozess der Komplexitätsreduktion bezogen. Vierstelligkeit bedeutet im Sinne meiner Theorie, in der jeder Erkenntnisgegenstand in drei Hauptbereiche aufgeteilt werden kann, zwischen denen jeweils eine Beziehung besteht, die wieder als ein Bereich aufgefasst werden muss, schon, dass entweder etwas (das zugehörige Dritte) fehlen muss, ausgespart wurde oder dass es um die Beziehung zwischen Unterscheidung und Erhaltung geht, die in der Logik eindeutig aufeinanderbezogen sind; hier braucht man das Dritte (die Vervollständigung) nicht, weil ihre Beziehung gerade die Vervollständigung ist. Das Entscheidende ist, dass es in der Ethik nicht mehr um die Vervollständigung von Unterscheidung und Erhaltung, sondern um die Unterscheidung von Vervollständigung und Erhaltung geht. Das ausgesparte Dritte bei den beiden Prozessen ist gerade die Vervollständigung (die Rede als segmentäre Integration/Vervollständigung) der voraussetzungslosen logischen Dreistelligkeit, um die Vervollständigung von der Erhaltung in der voraussetzungsvollen ethischen Fünfstelligkeit (als benachbarte Ecken eines bestimmten regelmäßigen Fünfecks im Dodekaeder-Modell) zu unterscheiden, indem die Unterscheidung zum einen mit der Erhaltung gleichgesetzt wird, zum anderen mit ihr verschiedengesetzt wird. Genauer in unserem Fall ausgedrückt werden bei der Produktion von Komplexität Sprache (segmentäre Reproduktion/ Erhaltung) und Wille (segmentäre Differenzierung/ Unterscheidung) gleichgesetzt (zyklischer Prozess im UZS beginnt  bei 1.Spalte:Unterscheidung/ 1.Zeile:Erhaltung) und bei der Reduktion von Komplexität Sprache und Wille verschiedengesetzt (zyklischer Prozess im UZS beginnt  bei 1.Spalte:Erhaltung/ 1.Zeile:Unterscheidung). Die Erhaltung(Diplomatie) wird von der Vervollständigung(Rhizomatie) ebenso auf der Ebene des Sagens unterschieden. Wurde die Rede auf der Ebene des Schweigens ausgespart, so wird sie hier  gebraucht. Die Diplomatie konzentriert sich auf das Geredete, die Beziehung zwischen den Aussageformulierungen  und den zukünftigen Rückgriffen auf sie in unterschiedlichen Konstellationen. Die Rhizomatie fokussiert sich auf das Reden, die Beziehung zwischen Sprechendem und Hörenden in konkreten, nicht wiederholbaren Ereigniszusammenhängen. Beide beackern das eigene Feld mit den Gerätschaften des Anderen. Ethische Fünfstelligkeit bedeutet, dass zur Unterscheidung, Erhaltung und Vervollständigung noch zwei Stellen hinzukommen müssen. Durch die Geschlossenheit des Dodekaeders kann aber jede Kante als Verbindung zweier Ecken für sich als Unterscheidung zwischen Vervollständigung und Erhaltung betrachtet werden, obwohl es keine redundante Besetzung der Stellen in den jeweiligen Fünfecken für sich geben kann. Als benachbarte Ecken in meinem Dodekaeder-Modell gehören Diplomatie und Rhizomatie zusammen zu zwei Fünfecken und einzeln zu drei  Fünfecken. Das eine Fünfeck der beiden Fünfecke, zu denen sie zusammen gehören, betrifft den Unterscheidungsaspekt der Choratik und das andere den Erhaltungsaspekt der Ökologie. Nur bezüglich Letzterem wiederum steht die Rhizomatie für die Vervollständigung und die Diplomatie für die  Erhaltung.

Dass die Umdeutung auch nach Latourschen Prinzipien Sinn ergeben kann, lässt sich durch die Betrachtung der Forderungen veranschaulichen, die auf der Ebene der ordnenden Gewalt zu erfüllen sind: die Forderung nach der Öffentlichkeit der Diskussion, wenn es um die Hierarchisierung geht; die Forderung nach der Schließung der Diskussion bei der letzten Prozess-Stelle der Institution. Sprachlich präziser würde die Öffentlichkeit der Schließlichkeitgegenüberstehen. Schließlichkeit müsste bedeuten: allmähliches Zustandekommen eines Resultates. Also genau das, wofür die Wurzel der Rhizomatie als Mittel sorgt: sie saugt Wasser und Nährstoffe aus dem Boden auf, dringt dafür in die geeigneten Bodenschichten vor und transportiert das Aufgenommene langsam nach oben. Öffentlichkeit bedeutet dann: einmalige Niederlegung eines Beginns. Also genau das, wofür die Diplomatie mit ihrer Urkunde sorgt, denn auf sie kann man sich immer wieder beziehen (oder auch: berufen), solange sie Gültigkeit besitzt. Sie schreibt den Beginn von etwas fest, indem durch sie Randbedingungen (oder sogar Grundbedingungen??) geändert wurden. Natürlich unterscheidet sich die Bedeutung von Schließlichkeit von jener von Schließung. Aber das allmähliche Zustandekommen des Resultates fordert Latour immer wieder aus zivilisatorischen Gründen und wenn es zustandegekommen ist, wäre ein provisorischer Abschluss gefunden und zu etwas anderem soll es ja nicht kommen. Meiner Meinung nach lässt diese Lösung nichts zu wünschen übrig.

“Das Parlament der Dinge” von Bruno Latour ist das bisher beste der in “Kritik und Verriss(I-III)” kritisierten Bücher.  Wenn er Bedeutungsfelder aufmacht, so steckt ein praktisches Interesse dahinter, und wenn er systematisiert, dann meist nicht gedankenlos. Um seine Bezüge jedoch alle zu realisieren, braucht es einige Mühe; es ist aber lohnenswert. Zur Prominenz (von der natürlich auch nur mit ironischem Unterton gesprochen werden kann) zähle ich ihn auch mit diesem Buch nicht, weil es an entscheidenden Stellen zu wage ist, und seine Lösung, zu der er die Bürokratie in übertriebener Form braucht, gerade das Problem verschlimmern würde. Das kann man verzeihen, wenn man die Kunstmäßigkeit des Ansatzes nicht übersieht. Es fehlt allerdings nur ein Quentchen zum Prominentenstatus und mögliche Kompatibilitäten zum Luhmannschen Ansatz, der ebenfalls nicht wenige Mängel aufweist, sind es wert, dass man ihnen nachgeht. Dem werde ich mich – sofern ich die Zeit dazu habe – auch auf dieser Website vielleicht noch widmen.

(Tiefe:8/Breite:5/Höhe:4/Gesamt:5,66)