Kritik und Verriss(II)

Martin Albrow: Das globale Zeitalter (1996)

Martin Albrow (geb. 1937) ist ein emeritierter englischer Sozialwissenschaftler, der sich mit dem Phänomen der Globalität intensiv beschäftigt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Veröffentlichungen zu diesem Thema versucht er sich in seinem  Buch “The Global Age. State and Society Beyond Modernity”(alter deutscher Buchtitel: “Abschied vom Nationalstaat”), das er 2006 noch um ein aktuelles Kapitel ergänzte, mit dem Gesamtphänomen der Globalität auseinanderzusetzen und pickt sich nicht nur einen Aspekt, der dann unvermittelt im Raume stehen gelassen wird, heraus. Leider kann man das von den einzelnen Gedanken (bzw. der Logik) nicht behaupten, die vielleicht einzeln Tiefe versprechen, aber im Fortgang der Argumentation entweder nicht wieder aufgegriffen werden (weil sie das Versprechen nicht einlösen können?)   oder in die Hohlheit der gleichen Phrasen, die vorher schon verkündet worden sind,  münden. So stellt er z.B. fest, dass das Globale  ”den zeitlichen Bezug des Modernen durch einen räumlichen [ersetzt], der jedoch unbestimmt ist”(1998, S.132). Wenn er etwas weiter in dieser allgemeinen Erörterung des Phänomens gehen würde, würde er auf etwas stoßen, dass ihn wahrscheinlich nachdenklich machen müsste. Der Bezug auf das Globale beinhaltet nämlich auch einen zeitlichen, denn die Erde dreht sich und dreht sich etc.  und der räumliche Bezug ist keineswegs unbestimmt. Die Bestimmtheit ist nur eben allgemeiner Natur, weil damit andere Raumaspekte ausgeklammert werden, deren Bestimmtheit, weil sie das Gleiche u.a. mit der “Globalität” machen, ebenso allgemeiner Natur ist (vgl. z.B. Lokalität). Mit dem Begriff der Globalität wird also auf eine allgemeine räumliche Bestimmtheit und aufgrund der gleichbleibenden Erdrotation und Bahn um die Sonne auf eine bestimmte zeitliche Allgemeinheit Bezug genommen.

Viele Aussagen werden zum Ende hin  auch ohne schlechtes Gewissen einfach wieder relativiert.  Er will sich  auf die praktischen Erfahrungen der Zeitgenossen beziehen, sollte vielleicht aber eher der Praxis der Theorie (dem Treffen von klaren Unterscheidungen und den kategorialen Bezügen) mehr Bedeutung einräumen.  Nach Albrow ist das “Modern Age” Geschichte und wir befinden uns nun im “Global Age”. Einerseits gibt er die Losung aus: “vergesst die Moderne!”, andererseits sollen die Errungenschaften der Moderne gehegt und gepflegt werden. Und Letzteres, nachdem er eine Kanonade nach der anderen auf die Moderne und den Nationalstaat, der der charakteristische kollektive Akteur in der Moderne sei, abgefeuert hat. Die Epoche der Moderne diskriminiert er  – eindeutig wertend – gegenüber anderen Epochen, die natürlich nur kursorisch behandelt werden. Das ist inkonsequent, wenn  die Epoche der Globalität nach ihm doch allen Epochen gegenüberstehen soll.

Modernität impliziert schon, dass aus Zeitgenossensicht auf die eigene Epoche geblickt wird. Das trifft für die Globalität aber nur bezüglich der oberflächlichen Wahrnehmungen des organisationalen Alltags oder der alltäglichen Organisation zu. Globalität ist vielmehr ein theoretisches Konstrukt, das als solches von Albrow nicht entsprechend ausgebaut wird. Er nimmt  größtenteils nur Phänomenbereiche der letzten Phase des Narzissmus auf, die aus elitärer Zeitgenossensicht unter der Rubrik “postmodern” eingeordnet worden sind und erklärt dann, dass mit diesen Errungenschaften, um die er nur den Schleier des “Globalen” hängt, die Probleme schon zu lösen seien, die durch die globalen Grenzen nun nicht mehr geleugnet werden können. Dieses mangelnde Epochenverständnis korrespondiert mit jenem, das Albrow dazu bewegt, die Moderne mit der Entdeckung Amerikas beginnen zu lassen. Dieser Fehler kann vermieden werden, wenn  man die Soziogenese so unterteilt, dass auch die segmentäre Phase und die funktionale Phase genauso wie die virtuelle Phase eine virtuelle Unterphase besitzen. Die Phase der virtuellen Differenzierung wird dann im Allgemeinen aus der Sicht der Zeitgenossen als Moderne betrachtet, was bedeutet, dass sich das Wissen verdichtet, bevor es zu einer Veränderung des kulturellen Selbstverständnisses kommt. Auch Ovid war also ein moderner Dichter, nur für eine andere Zeit. Die Zeit zwischen dem 15. Jahrhundert und dem 18. Jahrhundert stellt gerade die virtuelle Unterphase der funktionalen dar, also die Moderne jener Gesamtphase, die ungefähr mit dem Leben Jesu begann. Die paradigmatische Moderne, die auf die gesamte Soziogenese bezogen ist, beginnt also erst im 18. Jahrhundert.

Albrows Buch ist deshalb für mich sehr interessant, weil es vom Ansatz her viele Berührungspunkte zwischen seiner und meiner Theorie gibt. Allerdings verweigert sich sein Blick auf die Weltphänomene in frevelhafter Weise den Differenzen, die eine Lösung erst möglich machen, obwohl die Abwendung globaler Katastrophen eines seiner erklärten Theorieziele ist. So z.B. behauptet er, dass die Projektmäßigkeit, die die Moderne kennzeichnet (er spricht auch vom “Projekt der Moderne”), an immanent globale materielle Grenzen stoßen musste, weil eine weitere “Expansion” mangels fehlender territorialer Optionen und Ressourcenknappheit nicht mehr möglich war. An anderer Stelle betont er die erhöhte Relevanz der Definition der Kategorie “Geschlecht” für das Leben der Menschen unter globalen Bedingungen und die vielfältigen neuen Möglichkeiten, sich sozial organisieren zu können. Er hebt die Bedeutung vormoderner und nichtwestlicher Lebensformen und Sichtweisen hervor, die durch die Globalität wieder aktuell werden würden. Wenn auch vieles hippiehaft anmutet, möchte ich seinen Ausführungen nicht unbedingt widersprechen, doch wie ist ihr theoretischer Gehalt einzustufen, wenn sie anscheinend nur durch das Vertrauen in das Bedürfnis der Menschen, sich gegenseitig zu lieben, angeleitet und miteinander verbunden sind. Dabei sind die fundamentalen Unterscheidungen so nahe; doch wenn man sie trifft, wird man von ihnen nicht mehr losgelassen. Dann muss man ihnen auch  entweder den Raum geben, das Feld, das interessiert,  vollständig  zu organisieren, oder man muss sich ein neues Feld suchen. Einfach ausgedrückt: man kommt beim Theoretisieren nicht um Abstraktionen herum und dann genügt kein Verweis auf die “konkrete Materialität” des Globus. Albrow trifft in seiner Theorie keine Vorkehrungen, die uns davor bewahren, dass ein Großteil der Bevölkerungen irgendwann einmal aus Almosen-Empfängern besteht, die auf die Gutwilligkeit von Inhabern großer Aktienpakete (Gates,Buffett,Brin etc.) angewiesen sind. Mit Hilfe von Abstraktionen kann die Gerechtigkeit selbst in theoretisch angeleiteten Artefakten verankert werden, auf die Menschen zur Regelung ihrer Beziehungen heute und morgen zurückgreifen müssen.

Der Ausweg, den Albrow zeigt, knüpft bei der Habermasschen These der Kolonialisierung  der Lebenswelt an. Albrow akzeptiert diese These weitgehend und richtet sich auch in seiner Gliederung danach. Er versucht jedoch das Ergebnis der Kolonialisierung ins Positive zu wenden. Habermas hätte übersehen, “dass die Übergriffe des modernen Staates auf das Alltagsleben zu einer größeren Befähigung der Menschen beigetragen haben könnten, nämlich durch ihre Ausbildung und den Zwang zur Teilnahme an Formen alltäglicher Bürokratie”(1998,S.276). Wie sollen aber z.B. Arbeitslose Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit dem Staat erlangen, die sie zu seiner Weiterentwicklung in Richtung der Lösung von globalen Problemen  nutzen können, wenn sie durch die Hartz4-Gesetzgebung einer optimierten Armenhaltung zugeführt werden? Prinzipien, die aus Umständen heraus entwickelt worden sind, in denen der Fortgang des Arbeitsprozesses höchste Priorität besitzt und menscheninduzierte Störungen des Arbeitsablaufes vermieden werden sollen, die logisch also auf die Maschine-Mensch-Interaktion bezogen sind, werden auf die Gesellschaft-Mensch-Beziehung angewendet. Im automatisierten Arbeitsablauf in Großunternehmen z.B. der Automobilindustrie werden Rahmenbedingungen zugunsten der Störungsfreiheit geschaffen, im Umgang des Staates mit der Arbeitslosigkeit jene abgeschafft, die die Arbeitslosen davor bewahrten, dass die Ungerechtigkeit ihrer Situation noch auf die Art und Weise ihrer Behandlung durch den Staat durchschlägt.  Es geht also nicht um die Bildung einer Arbeitslosen-Klasse für sich (Wunschdenken mancher Linken, so nicht in Albrows Buch zu finden), sondern um die zersplitterte Rationalität eines Staates, der seine Institutionen nach seinen Prinzipien und nicht nach denen von Großunternehmen gestalten müsste. Nach Albrow soll die Unabhängigkeit wie bei der territorialen Kolonialisierung (Beispiel: Indien ?)  “mittels Anpassung an die Kultur der Kolonialherren”(1998,S.276) erlangt werden. Stattdessen schwinden den Menschen  angesichts eines standortintelligenten Kapitals die Perspektiven eines selbstbestimmten, an der Selbstverwirklichung ausgerichteten Arbeitslebens.

Albrows Ausführungen zu wesentlichen Gebieten sind denn auch nicht besonders zielführend. Die Weltgesellschaft repräsentiert für ihn die Heterogenität aller transnationalen Beziehungen. Sie wird zur globalen Gesellschaft, wenn die Menschen erkennen werden, dass der Nationalstaat nur noch ein Hindernis darstellt bzw. immer schon dargestellt hat und er endlich (nach Albrows Sicht) ausgezählt werden kann. Wenn die alten Institutionen zerschlagen worden sind und nur noch die globale Emotion übrigbleiben würde, besteht aber m.E. sogar die Gefahr globaler Reminiszenzen an faschistische Urstände. Was natürlich auch nicht den anzunehmenden Intentionen von Albrow entsprechen dürfte.  Sein Weltstaats-Begriff ist gänzlich abstrakt: “Der Weltstaat zeigt sich bereits in der Ordnung der Dinge”(1998, S.268). Außerdem erscheint mir die Zukunft, die er uns ausmalt, nicht erstrebenswert und noch möchte ich mich nicht damit abfinden, ein Mitglied einer entwurzelten Ethnie in einer multikulturell-fraktalisierten globalen Gesellschaft zu sein, in der sich alle Menschen in  der Diaspora befinden. Stattdessen halte ich es für sinnvoll, den Territoriums-Begriff auf seine Aussagekräftigkeit im Hinblick auf die globale Situation genau zu überprüfen. Planet Earth = Human Territory and/or Life Environment? Oder anders gefragt: wie verschieden sind die Menschen wirklich? Dann kann der Territoriums-Begriff natürlich nicht alleine stehen gelassen werden, sondern man muss sich auch um Deterritorialisierungen, Reterritorialisierungen und auch um andere Erdbezüge kümmern.

Die Unterscheidungen, die ich meine, sind vor allem diejenige zwischen Materialität und Spiritualität und jene zwischen Bewusstein und Geschlecht. Die Unterscheidung zwischen Materialität und Spiritualität kennzeichnet die  Ethik im Allgemeinen. In meiner Theorie wird diese Unterscheidung operationalisiert in der These von der ethischen Disjunktion zwischen Komplexität und Simplexität. Die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Bewusstsein steht in meiner Theorie für die paradigmatische logische Konjunktion von Komplexität und Simplexität, die in der Ordnung der ethischen Disjunktion zwischen Komplexität und Simplexität unter jeweils Komplexität, Simplexität und Perplexität eine andere Bestimmung erhält.

Viele Aspekte einer funktionierenden soziologischen Theorie zur Beschreibung der Gegenwart sind also in dem Entwurf von Albrow schon enthalten, doch es fehlt das Wesentliche in diesem Zusammenhang: sie eindeutig aufeinander zu beziehen.  Zum Ersten wäre da die Kategorie des Geschlechts auf das bewusste Inangriffnehmen von Projekten zu beziehen; theoretisch eindeutig gefasst (die Kategorien auf die gleiche Ebene gebracht): das Geschlecht auf das Bewusstsein. Ein Vorunterscheidung muss allerdings getroffen werden. Es muss das menschliche Bewusstsein von dem Bewusstsein als Tatsache unterschieden werden und das menschliche Geschlecht von dem Geschlecht als “Ortsuche”. Demnach gibt es natürlich nur zwei Ausprägungen des menschlichen Geschlechts und auch nur zwei des menschlichen Bewusstseins (Gesellschaft,Gemeinschaft!). Diese sind nun durch die Zeitaspekte eindeutig aufeinander zu beziehen. Das männliche Geschlecht existiert in der Diachronie, das weibliche in der Synchronie. Platt formuliert: Spermien bewegen sich, Eizellen ”warten” nur. In die Gesellschaft ist Diachronie eingelassen und in die Gemeinschaft Synchronie (so zumindest eindeutig formulierbar, wenn man sich lediglich auf die eine Weltgesellschaft bezieht). Insofern können die Menschen der beiden Geschlechter unter diesen Aspekten eindeutig auf ihre “höheren Einheiten” bezogen werden,  der Mann auf die Gesellschaft, das Weib auf die Gemeinschaft. Mit “Herr” und “Frau” müsste man dann hingegen die gemeinschaftlich bzw. gesellschaftlich  anerkannten personalen (personalisierten) Geschlechtsidentitäten bezeichnen. Deshalb müssen wir in unserem Zusammenhang von “Weib” statt  von “Frau” sprechen.

Nach der Perzeption von Albrow, die er verallgemeinert, hat die Moderne in dem Maße an Schwung verloren, wie der Expansion globale Grenzen gesetzt wurden. Nach meiner Interpretation der Abläufe kann es gar nicht zu einem Schwungverlust gekommen sein, sondern die Beschleunigung der Erzeugung von Neuem wurde von der Biologie bis zu einer immanenten Grenze getrieben (die wohl das Licht ist). Der Schwungverlust oder eine gewisse Schwerfälligkeit (der Wahrnehmung von Albrow) ist durch etwas anderes zu erklären: das Aufeinanderbezogensein von Geschlecht und Bewusstsein. Er hat nichts mehr mit der Moderne zu tun und ist nur auf das einzelne Individuum selbst zurechenbar. Nicht die Moderne hat an Potenz verloren, sondern die potente Modernität wurde  freigesetzt und es liegt am Einzelnen selber, sie positiv in das Verhalten zu übernehmen und so das eigene Potential voll auszuschöpfen. Denn man kann nun alles gleichzeitig sein und das Neue ist man dann nur selber – und durch nichts ist dieses Neue dann zu ersetzen und die “Ware” wurde schon verkauft. Anders ausgedrückt: Zeit ist unzerbrechlich.

Als nächstes muss die Materialität auf die Spiritualität bezogen werden. Albrow spricht von globalen Grenzen und sehr abstrakt von “Kräften”, die ins uns, zwischen uns und um uns herum schlummern sollen. Das Entscheidende wiederum: Materialität und Spiritualität müssen eindeutig  aufeinander bezogen werden. Zur Operationalisierung dieser Unterscheidung  wage ich, die These der ethischen Disjunktion zwischen Komplexität und Simplexität vorzubringen.

Es sind zu unterscheiden: die zu operationalisierenden Begriffe Materialität und Spiritualität sowie ihre Kombinationen spirituelle Spiritualität, spirituelle Materialität, materielle Materialität und materielle Spiritualität; des weiteren die operationalisierenden Begriffe Komplexität, Simplexität, Perplexität, Disjunktion, ethischer Prozess, ethisches Resultat sowie die Transjunktion.

Die Operationalisierung erfordert drei Ebenen. Die Ordnung der Ebenendifferenzierung ist dabei von einer Begrifflichkeit (Einheit, Unterschied, Beziehung) inspiriert, die sich u.a. bei Hegel findet.

1.Ebene (Einheit) : materielle Materialität =  spirituelle Spiritualität

2. Ebene (Unterschied): Differenz zwischen spiritueller Materialität und materieller Spiritualität; Erstere auf den ethischen Prozess und das ethische Resultat bezogen, Letztere auf jeweils Komplexität, Simplexität, Perplexität, Disjunktion und Transjunktion für sich

3. Ebene (Beziehung) :

a. spirituelle Materialität:

Materialität: ethischer Prozess

Spiritualität: ethisches Resultat

b. materielle Spiritualität:

Materialität: Disjunktion, Perplexität

Spiritualität: Komplexität, Simplexität, Transjunktion

Der Begriff der transjunktiven Operation bezeichnet etwas, das nicht vorgestellt werden kann. Es gibt das zugrundeliegende Verb im Lateinischen auch eigentlich gar nicht (zumindest nicht in meinem großen Schulwörterbuch). Die Transjunktion ist die Beziehung zwischen ethischem Prozess und ethischem Resultat. Diese Beziehung ist vorstellungsmäßig nicht repräsentierbar.

Dieses Unvorstellbare kann man sich vielleicht am Besten so vergegenwärtigen, dass das Ich, das man gestern war, mit dem Ich, das man heute ist, nur durch den Körper verbunden ist, den man besitzt, es aber ohne Denken diesen bestimmten Körper nicht geben würde. Es existiert also ein Inhalt als Gewinn, der sich sozusagen wohlfühlt, aber gerade dafür keine wirkliche, wiederherstellbare Verbindung zu dem Vergangenen besitzt und somit auch nicht auf diesem aufbauen kann, was die Zukunft anbetrifft. Diese Transjunktion ist auch kein Losgerissenwerden, weil es niemals eine Struktur gegeben haben würde, aus der man hätte losgerissen werden können. Auch die möglichen deutschen Übersetzungen “Überbindung” oder “Überschließung” dürften dann nur für die Bezeichnung einer imaginativen bzw. imaginären  Leerstelle verwendbar sein.

Diese Verwendung des Terms “Transjunktion” ist also nicht mit jener von Gotthard Günther oder der in meiner Kritik des Baeckerschen Arbeitswertlehre-Textes identisch. Der Transjunktions-Begriff soll hier etwas bezeichnen, wofür Albrow keine Begriffe besitzt. Er meint, dass die reflexive Rationalität im Sinne von Ulrich Beck für den Umgang mit den globalen Zuständen nicht ausreicht und spricht dann nur immer wieder von Globalität, so als ob sich quasi-kommunistisch eine homogene Planetenorientierung  in die Herzen der Entscheider einpflanzen würde. Im Gegensatz dazu besitzt mein Transjunktions-Begriff eine genau angegebene Stelle in der Systematik meines Ethik-Konzeptes.

Der ethische Prozess umfasst die Disjunktion von Komplexität und Simplexität als Einheit. Diese drei Elemente kommen also nicht für sich in ihm vor, sondern nur in ihrer speziellen begrifflichen Verbundenheit. Das ethische Resultat umfasst nur die Perplexität, diese jedoch wieder nicht für sich genommen.

Neben der Bestimmung der Begriffe Materialität und Spiritualität innerhalb des spezifischen ethischen Kontextes müssen sie natürlich noch bezüglich der gesamten Genese bestimmt werden. Dafür wollen wir der Einfachheit halber die uns schon aus der Soziogenese-Theorie bekannten Vokabeln verwenden: Differenzierung (Unterscheidung) und Reproduktion(Erhaltung). Hinzu kommen muss noch ein wesentlicher Begriff, den man für jene Theorie eigentlich nicht brauchte, aber für ihr Verständnis sehr wohl: die Integration(die Vervollständigung). Die Integration ist gerade bezüglich der Soziogenese der Zusammenhang von Differenzierung und Reproduktion, ihr Füreinandergemachtsein: keine Erhaltung ohne Unterscheidung und keine Unterscheidung ohne Erhaltung, also etwas, was sich eigentlich schon von selber versteht. Statt von Soziogenese zu sprechen, könnte man auch genauer den Begriff des “Wehens der Logik” verwenden.  Bezüglich der gesamten Logik kann man in diesem größeren Bestimmungsbereich ebenso die bestimmte Art des Aufeinanderbezogenseins von Reproduktion und Differenzierung als Integration bezeichnen. In der gesamten Ethik nun sind nicht Erhaltung und Unterscheidung aufeinander bezogen, sondern Vervollständigung und Erhaltung und die Art ihres Aufeinanderbezogenseins ist die Unterscheidung. Die Materialität steht bezüglich der gesamten Ethik für die Integration und die Spiritualität für die Reproduktion. Aufgrund der Art ihres Aufeinanderbezogenseins (der Differenzierung) wird obige Operationalisierung erst sinnvoll, denn wenn diese Art integrativer Natur wäre, wieso sollte man sie dann auseinanderklamüsern? Man würde immer nur auf “dasselbe” stoßen.

Insgesamt sensibilisiert Albrows Buch den Leser für viele globale Problembereiche. Vor der Form, die er seiner Argumentation gibt, ist allerdings genauso zu warnen, wie Engels vor Marx hätte gewarnt sein müssen, als dieser ihn vor Stirner warnte. Diese Form eignet den populistischen soziologischen Überblickstheorien, die aus dem heterogenen Material der Welt eine zukünftige, homogene Ordnung fabrizieren wollen. Die Heterogenität ist bei Albrow jedoch schon in “Sphären” (und nicht “Klassen”) gepackt, die sich gegenseitig nie mehr weh tun können, also nur Homogenität in sich reflektiert. Die Welt wird sich also für Albrow genauso wenig interessieren, wie sie um Marx großes Theater gemacht hat, was Ersteren dann doch etwas sympathisch macht (oder nicht?).

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Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft

Die Originalausgabe dieses Buches erschien in Englisch 2005, die deutsche Ausgabe letztes Jahr. Das Buch ist als Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gedacht. Der Autor ist selber ein maßgeblicher Mitbegründer dieser Schule. Man merkt dem Buch an, wie involviert er selber bei der Gründung der Schule war und dass ihre Etablierung nicht reibungslos und ohne Pausen vonstatten ging. Wenn ein Mitbegründer eine Einführung schreibt, sollte man davon ausgehen können, dass sie etabliert worden ist. Zumindest was die Reife der enthaltenen theoretischen Konzepte anbelangt, sind jedoch Zweifel anzumelden. Er hält selber den Namen der Theorie für irreführend. Sie sollte wohl eher Werknetz -Theorie heißen und vielleicht noch genauer objektorische Werknetz-Theorie.  Es geht darum, dass ein festgefügter Gesellschaft-Begriff nicht zur Erklärung taugt, nicht zur Erklärung von Phänomenen herangezogen werden darf. Sondern man müsste erst einmal den Akteuren folgen. Was taucht in den Beziehungen zwischen den Akteuren auf, wie definieren sie die Situation selber? Wo entstehen Bruchlinien? Und vor allem: was passiert nach dem Bruch, wenn durch das Auftreten von noch unbekannten Arten von Akteuren die alten Forschungsraster obsolet werden? Sozialwissenschaft beginne also nicht bei dem eigenen Weltbild, sondern bei der Erzählung der Beteiligten des Unter – suchungsgegenstandes Gesellschaft. Dieser Sichtweise kann aber entgegengehalten werden, dass es genauso rational ist, sich von den Akteuren nicht einschüchtern zu lassen. Die Alternative ist jeweils negativ. Auch Latour bekräftigt, dass die Lehren seiner Methode zum großen Teil negativ sind. Der Untersuchungsgegenstand soll auch – in seiner Würde – erhalten bleiben. Deshalb geht es darum, was man nicht dürfe, wenn man in der Sozialwissenschaft politisch relevante Aussagen machen will. Auch der Weg muss stimmen. Ohne Unbestimmtheiten kein Bild der Situation, in dem sich die Beteiligten wiederfinden. Die letzte Unbestimmtheit liegt bei dem Soziologen selber, der den Berichttext verfasst.

Latour stellt vier Arten des Sozialen fest – ähnlich den Aggregatzuständen fest, flüssig, gasförmig , plasmatisch. Fest: die Gesellschaft als Erklärungssubstrat (die sozialen Bindungen); flüssig: die willkürlichen Assoziationen; gasförmig: die Interaktionen. Die vierte Art nennt er selber  ”Plasma”: die noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten, die noch zur Verfügung stehenden Ressourcen. Demnach könnte man meinen, dass hier zwei verschiedene Theoriebausteine der Systemtheorie von einem systemtheoriefremden Soziologen vereinigt worden sind: der gegenläufige Strom von Energie und Information bei Parsons und die analytische Unterteilung der sozialen Ebenen bei Luhmann (Gesellschaft, Organisation, Interaktion). Dem ist natürlich nicht so. Die erste Art des Sozialen ist bei Latour das gesellschaftliche Soziale, wie es als Einheit schnell zur Hand ist und das nach Latour in seiner unreflektierten Form zu keiner Erklärung von bestimmten Phänomenen taugt. Dass eine Erklärung keine Verkürzung ist, sondern eine Kette von Mittlern, dem dürfte kein aufgeklärter Geist widersprechen, wenn man Unschärfen im sozialen Bereich akzeptiert. Aber Latour gibt sich erklärungsabstinent. Er hält es für eine große Aufgabe, überhaupt nur zu beschreiben, wie neue Assoziationen sich ins Werk setzen. Diese könnten nur adäquat erfasst werden, wenn auch nicht-soziale Entitäten als Mittler zugelassen werden, die ebenso wie soziale Entitäten Menschen dazu bringen, etwas zu tun. Im Grunde geht es wohl gerade um die Ersetzung des Sozialen, so wie wir es kennen. Bei Luhmann würde es an dieser Theoriestelle um symbolisch-generalisierte Kommunikationsmedien gehen, also um eine theoretisch wesentlich aufwendigere Konstruktion. Latour dagegen stattet  sozial relevante Entitäten  mit einem Pseudo-Leben aus bzw. reduziert sie auf ein solches, um Erklärungselemente (und nicht Beschreibungselemente) auf eine kommensurable Ebene zu bringen, auf der sie in der durch das Aufzeichnungsmedium vorgegebenen  Form zu tanzen haben: in 2D und in alle Richtungen, in die sich Anschlusspunkte eintragen lassen , also prinzipiell in alle Richtungen.

Wohlgemerkt das Aufzeichnungsmedium ist noch nicht der Soziologe, sondern stattdessen das leere Papier. Was wird darauf wohl erscheinen? Die lediglich aktuellen Konstitutionsbedingungen von irgendetwas. Nichts ist durch sich selber konstituiert und schon gar nicht durch lediglich Soziales. Latours Helden sind Garfinkel und Tarde und nicht Durkheim oder Theoretiker der kritischen Schule. Letztere überhäuft er mit Kritik. Diese Einführung ist zur Hälfte eine Polemik. Wieso braucht ein Autor, der sich selber für einen guten Texteschreiber hält, ein Feindbild, um einen kohärenten Text abzuliefern?  Für ein Einführungsbuch denkbar unpassend. Es gibt etliche Bücher mit einer ähnlichen Struktur, aber natürlich verschiedenem Inhalt. Sie verbindet ihre werkhafte kohärenz – ausstattende Feindbildnotwendigkeit. Anders ausgedrückt: ich halte das Abgrenzungsbedürfnis von Latour für irrational. Er wirft den Soziologen des festen Sozialen vor, vom  Phänomen in den Kontext zu springen, um es einzubetten, einzuhüllen, in seiner Ursprünglichkeit zu ersticken und simplifiziert damit die Herangehensweise des Gegners auf das Äußerste, sodass man sich fragt: ist das überhaupt nötig? Niemand würde sich an ihnen orientieren. Er selber hält sich fälschlicherweise für immun dagegen, in den Kontext zu springen. Aber es ist theoretisch ebenso unspannend, die Abgrenzung – statt sie in der inhaltlichen Auseinandersetzung, durch den Inhalt geschehen zu lassen – dadurch zu vollziehen, dass man in das Konzept springt, was der Weg von Latour ist (wenn es denn ein Weg wäre). Die Reibungsenergie sollte stattdessen genutzt werden, um das Feuer im Text zu halten. Dafür muss man ganz nah an den Körper des anderen Textes heran, an das, was der Feind ( der ebenfalls Abstrahierende) will.

Aber natürlich: nicht das Anliegen des Feindes ist falsch. Sondern sie hätten mit etwas Wichtigem angefangen, ohne vorher die ganze Arbeit gemacht zu haben. Latour will etwas füllen, was die Soziologen des ersten Sozialen leer gelassen haben sollen. Die ganze Polemik löst sich in das Verständnis eines im Schweiße seiner Schreibfeder erhaben auf sein nun nicht mehr leeres Blatt Papier herunterguckenden Soziologen auf. Am Schluss kommen also wie bei Albrow die Relativierungen. Verdächtig muss es  erscheinen, dass er seine Theorie für notwendig hält, weil die formatierenden Soziologien des festen Sozialen  in letzter Zeit weniger mächtig ihre Funktion erfüllen. Also haben sie ihre Funktion einmal besser erfüllt und früher brauchte man seine Theorie nicht? Weil diese hinterhinken, stehen also zuvor die Mühen der Ebene auf dem Programm? Aber wo ist dann die Verbindung von der Beschreibung zur Erklärung? Die Landkarte des Sozialen glattzustreichen, damit man die Länge der Verbindungen erkennt, bedarf es keiner Mühen. Bei Latour liegt jene Verbindung anscheinend zwischen dem flüssigen Sozialen, für das er sich kompetent hält, und dem festen Sozialen, dessen Theoretiker er so sehr kritisiert hat. Nur: wenn sich die Gesellschaft dauernd mit ihren Mitgliedern (und vielleicht ohne sie?) verändert, hat dann der Soziologe des festen Sozialen nicht etwas Flüchtigeres (und für Latour somit eigentlich Wertvolleres) aufgezeichnet als der Soziologe des flüssigen Sozialen, dessen Objekte, wenn  auch vielleicht nicht mehr funktionstüchtig und nicht mehr mit allen Zuflüssen ihrer das Soziale konstituierenden Potenz versehen, immer noch für das Auge von Individuen zu sehen sind? Und wenn nicht, dann sind sie halt verschwunden. Sie sind es zumindest nicht ohne Grund. Dessen kann man sich sicher sein. Die Aufzeichnungen von Latour mehren nicht die Befriedigungen auch nur eines Mitgliedes der Gesellschaft. So kann sich der Adel nur selbst gefallen, möchte man sagen. Latour möchte das von ihm vom Sozialen streng unterschiedene Kollektiv versammeln. Um keinen Schutzbefohlenen, kein Stück Vieh und keinen Pflug unberücksichtigt zu lassen? Demnach wäre das feste Soziale1 die Sache des Königs, das gasförmige Soziale3 die Sache des Bauern und das Soziale4 die herantrappelnde bürgerliche Freiheit. Schneidet den Adel und Latour den Schönen doch von den Zuflüssen ab! Ihr Alchemist wird sie kaum mit dem nötigen Gold versorgen. Kürzt ihnen die Mittel! In einem kleineren Institut zirkulieren die Dokumente in einem kleineren Kreis und finden so vielleicht eher ihr Ziel. Nur noch alleine fällt das Auge auf die Natur und der AN-Theoretiker lässt sich von ihr seine Arbeit machen. Dann entschlüpft vielleicht der Puppe des AN-Theoretikers ein Philosoph Schellingscher Prägung.

Dass die Erklärungskraft soziologischer Theorien, die lediglich die Komplexität einfangen wollen, nicht mehr ausreicht, kann kein Grund dafür sein, eine Ebene weiter unten anzufangen und es dann dabei bewenden zu lassen. Die Konstitution der soziologisch-akademischen Landschaft sehe ich selber sehr kritisch. Doch ich möchte etwas dagegen setzen und nicht die soziale Hypostase. Wenn man diese – wie Latour zugibt – anstrebt, hat man m.E. eher vor, Soziologie als Lebensstil zu pflegen. Fordert hier jemand sein Recht auf Reaktion? Meine Lösungen übertreffen jene von Latour an Eindeutigkeit bei weitem. Wenn er behauptet, dass Kunst, Recht und Wissenschaft erst einmal als Entitäten für sich ernst genommen werden müssen und man ihnen Ungerechtigkeit antun würde, wenn man sie sozial erklären würde, so stimme ich ihm zu, sozial bestimmt werden müssen sie aber. In meinem Achsenkreis-Modell sind sie gerade das, was – aber erst in zweiter Linie – den Erkenntnisgegenstand der Gesellschaft definiert, als Beziehungen zwischen jeweils zwei vorgängigen Bereichen. Sie existieren nur, weil es die Gesellschaft gibt. Denn deshalb gibt es verschiedene Perspektiven, und also Widersprüche. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, diese zu beseitigen. Als soziales, selbstreferentielles System tut sie dieses gerade mit Hilfe von Widersprüchen. Das soziale, selbstreferentielle System des Rechts beseitigt Zwänge mit Hilfe von Zwängen, die es ebenfalls nur gibt, weil es die Gesellschaft gibt. Meine Sozio-Ontologie wäre ein zweites Instrument, was ich der bestehenden Soziologie entgegenhalten könnte. Sie postuliert z.B. , dass ständig aus dem Sein gesellschaftliches Sein hervorgeht und stellt die Mittel bereit, die Etappen und Transportbänder dieses Prozesses in grundsätzlicher Weise zu verstehen. Wenn ich also hier lediglich vom Sein ausgehe, ist mein Rahmen (den es also gibt) schon so abstrakt, dass keine Orientierung an irgendeiner gesellschaftlichen Struktur mich  irrige Pfade betreten lassen kann.

Der Kampf darum, eine Schule zu etablieren, deren Kernsubstanz zu einem wesentlichen Teil aus den Ergebnissen wissenschaft- und techniksoziologischer Feldstudien gewonnen worden ist, hat deutliche Spuren hinterlassen. Warum kann die Beschreibung der eigenen Theorie nicht für sich sprechen? Das Ende des Buches ist dann geradezu eine Parodie auf die  Intentionen von Latour. Er selber springt in den Kontext, um eine abschließende Legitimation seiner Herangehensweise zu liefern, und zwar auf die klassisch-plumpe Weise: “In einer Zeit, in der die Frage der Zugehörigkeit in eine Krise gerät, sollte die Aufgabe des Zusammenlebens nicht länger allzusehr vereinfacht werden. Die Kandidaten, die an die Tür unserer Kollektive klopfen, sind inzwischen sehr zahlreich.” Er will für die Neuankömmlinge einen legitimen Platz finden. Wenn das nur heißen würde, dass man die Welt willkommen heißt, dann verzichte ich.

Wie ich schon am Anfang  betonte, ist eine negativistische Herangehensweise genauso rational wie eine positivistische. Es würde dann nur die neutralistische fehlen. Durch alle drei wäre ein Würfel konstruierbar, dessen Inhalt die Naivität in ihrer ganzen Konvexität wäre. Alle drei Herangehensweisen würden nur zusammen die Bestimmtheit eines jeden Punktes darin ausmachen.

Dass die vier Arten des Sozialen den Aggregatzuständen ähnlich aufgefasst werden, täuscht darüber hinweg, dass hier in der Wahl des Forschungsschwerpunktes eindeutig ein Bias am Wirken ist.  Es geschieht auch eher anekdotenhaft, inkonsequent. Die Systematik von Latour reicht eigentlich nur zur verfestigenden Trennung zwischen dem festen und dem flüssigen Sozialen, im Grunde zwischen der Immaterialität und der Materialität, wobei er sich aus Gründen der vorgeblichen Objektivität der Materialität (dem flüssigen Sozialen) zuwendet. Den willkürlichen Assoziationen wird analytisch durch ihre Orientierung an Objekten die Willkür genommen (eine synthetische Leistung soll also eine analytische Qualität besitzen!). Gleichzeitig gibt es aber ein wenig thematisiertes Liegenlassen der anderen beiden Arten des Sozialen, die  – im Grunde als Nichtspirituelles und Spirituelles aufgefasst – aus der Kontroverse herausgehalten werden. Meiner Auffassung nach dürfte es nicht um Trennung und anschließende Schwerpunktsetzung gehen. Sondern die Position des Soziologen ist schon die Position des Neuen. Er formt das Bild der Menschen von der Gesellschaft allein schon durch seine Existenz um. Durch sein Wortergreifen werden die Menschen mit seinem Kontext konfrontiert. Indem sie in ihm auftauchen, wird diese Veränderung mit einer befristeten Lebensdauer versehen, nach der dieser Soziologe verschwinden wird. Nicht weil er stirbt, sondern weil sich die Gesellschaft zusammen mit ihm verändert haben wird. Gleichzeitig richten sie damit an ihn die Forderung, dass seine Äußerungen nicht alles gewesen sein sollen, sondern dass er sich in ihnen – den Menschen – verewigt. Ja, durch Verknüpfungen, die Latour ja so wichtig sind. Aber diese Verknüpfungen müssen immateriell sein. Es muss beim Anliegen des Soziologen also zugleich um eine Durchdringung und eine Verschiebung gehen. Es reicht nicht, dass das Soziale erster Art immateriell ist, sondern das zweite muss es ebenfalls sein.

Normalerweise arbeite ich ein theoretisches Buch zwei Mal durch, bevor ich meine Meinung äußere. Obwohl dieses Buch flüssig und leicht verständlich geschrieben ist, scheint mir ein zweites Durchlesen für’s erste müßig, da mir die Pointe klar erscheint. Einen großen Schaden können die Untersuchungen der AN-Theoretiker wohl nicht anrichten. Ihre Legitimationsversuche für ihre Theorie sind aber ebenso labyrinthisch wie die Zielsetzungen der Kritischen Theorie. Da Letztere in die Sackgasse des Ichs führt, Erstere dagegen das Feld noch vor sich hat, ziehe ich Erstere vor. Der Blick auf das Konventionen-Reservoir vergangener Zeiten sollte allerdings nicht zur Nostalgie verleiten, der wir Deutschen vielleicht eher verfallen als Franzosen und Engländer, die durch den Hundertjährigen Krieg dagegen für ewig  immun sind?

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